Das stärkste Mädchen der Welt fällt aus.

Dieser Artikel entstand genau vor einem Jahr, als wir noch von nichts wussten. Noch gab es keine Selbstverletzungen, und die Depression war nur zu erahnen. Trotzdem war gar nichts in Ordnung.

 

So lautet die Überschrift, die ich gerade im Netz gefunden habe. Es tut gar nichts zur Sache, dass es sich dabei um einen Film oder ein Theaterstück handelt. Ich habe den Artikel nicht gelesen. Es war die Überschrift, die mich wie ein Blitz getroffen hat.

 

Mir ist vollkommen klar, dass wir innerhalb der nun seit einem Jahr andauernden Corona-Zeit, die ich jetzt mal CoZe nennen werde, in einer absolut privilegierten Situation leben können. Unabhängig der nervigen oder aufreibenden Umstände, die die CoZe mit sich bringt, können wir den Wahnsinn irgendwie bewältigen. Jeder hat in dieser Zeit seine eigenen Sorgen, so dass ich davon überzeugt bin, dass ich persönlich diese Zeit irgendwie überstehen werde.

 

Es ist ein tägliches Tetris, die Schule mit 3 Kindern zu organisieren, den Hund regelmäßig auszuführen (wobei der Hund wirklich gerade mein Leben rettet, aber das ist eine andere Geschichte), die Einkäufe für die ganze Familie zu erledigen, zwischendurch die ständig bewohnten Räume sauber zu machen, den Kühlschrank so zu füllen, dass alle zufrieden sind, die Rufe nach besserem Internet ohne Nervenkrise zu überstehen, die Kinder zu unterstützen, bei Laune zu halten, Zeit für jedes einzelne Kind zu haben, zu motivieren, zu trösten.

 

Zwei unendliche Listen, in denen einerseits ganz praktische Dinge stehen, die irgendwie funktionieren oder auch nicht. Auf der praktischen Liste steht ganz oben der gefüllte Kühlschrank, denn „Essen hält Leib…“ – ich stoppe an dieser Stelle, denn das mit der Seele kommt gleich noch. Aber danach ist es schon fast egal, ob die Wäsche mal einen Tag nicht gewaschen wird, da die Kinder seit einem Jahr fast nur noch Jogginghosen tragen. Ist nicht gesaugt, keine Betten gemacht? Egal, denn es kommt ja fast nie jemand. Und zum Glück ist der systemrelevante Mann, dessen Leben sich kaum verändert hat, auch ganz entspannt, wenn wieder einmal überall etwas herumsteht und auf dem Boden im Bad die Staubflocken tanzen. Im Laufe der Liste gibt es noch diese Dinge, um die ich nicht herumkomme (die Klopapierrolle usw.), aber obwohl mich das alles sehr nervt, bin ich davon überzeugt:

 

Ich werde das überstehen.

 

Natürlich wird der eine oder andere jetzt denken, dass es sich bei wirtschaftlicher Sicherheit, einem Mann mit sicherem Arbeitsplatz und einem Minijob von zu Hause aus wirklich gut auf hohem Niveau jammern lässt. Und genau deshalb werde ich die erste Liste an dieser Stelle abhaken. Wir sitzen alle in einem Boot, was das angeht. Der eine eben mit mehreren Kindern (schlimm) oder einem Einzelkind (auch schlimm) oder ganz ohne Kinder (schrecklich) oder ganz alleine (furchtbar), mit Existenzängsten (bedrohlich) usw. Man kann sagen: mit all unseren Sorgen und Mitmenschen teilen wir gerade ein Boot, das in der CoZe schwimmt. Übrigens auch mit den Lehrern unserer Kinder.

 

Und jetzt komme ich dazu, was ich ganz oben schon dachte, als ich die Überschrift las: als aktives Crew-Mitglied fällt das stärkste Mädchen der Welt gerade aus. Die zweite Liste, die schwerer wiegt und viel schwieriger „abzuarbeiten“ ist, beinhaltet nämlich, dass ich unsere Kinder durch diese CoZe navigiere. Ja, man könnte denken, es ginge um Antreiben und Motivieren, Struktur schaffen, schulisch unterstützen, sie wecken usw. Aber mittlerweile geht es – zumindest bei einem Kind – nur noch um Halten.

 

Der gefüllte Kühlschrank hält nämlich die Seele meiner Tochter nicht mehr zusammen. Der erste Lockdown hieß in der Familie noch Corona-Ferien. Von CoZe entfernt, aber es entstand eine Ahnung, wo es hin führen könnte, wenn der Zustand länger anhielte. Es war wie ein weit entferntes Donnergrollen, das mir lange keine Angst gemacht hat. Ich habe keine Angst vor Gewitter. Der erste Blitz – noch weit entfernt – schlug ein, als SIE vor den Herbstferien 2 Wochen krank war. Gerade konnten die Kinder wieder alle zusammen zur Schule gehen, sich sehen (zumindest die Augen der anderen) ohne einen speziellen Anlass oder eine Verabredung.

 

Dann kam die erneute Isolation für SIE durch eine schlichte Erkältung – die anderen in ihrem Taumel bemerkten ihre Abwesenheit kaum. Die Aufgaben kamen nur sporadisch bei uns an. Wonach sollte SIE fragen, die vorher sehr gute Schülerin, war sie doch nicht da gewesen. Aufgaben im Netz, Homeschooling…gab es in dieser Zeit ja nicht. Und dazu kam, dass SIE wirklich sehr krank war und hohes Fieber hatte. In den ersten 2 Wochen nach den Herbstferien hat SIE 4 oder 5 Arbeiten geschrieben oder nachgeschrieben, allesamt mindestens eine Note schlechter als vorher. Aber insgesamt noch nicht besorgniserregend. Mein Verständnis war sicher. Bis zu den vorgezogenen Weihnachtsferien waren es nur 5 Wochen.

 

Im November – und es ist beängstigend, dass dieser schreckliche Umstand mir erst jetzt beim Schreiben wieder einfällt, dass es noch gar nicht lange her ist, denn mein eigenes Seelenleben habe ich anscheinend ziemlich eingefroren – starb meine Mutter nach einer langen und schweren Krankheit. Die CoZe hat es uns extra schwer gemacht, denn in diesem Jahr wechselten sich Zeiten, in denen man sie nur alleine oder nur ausschließlich eine einzige Person während des gesamten Krankenhausaufenthaltes oder gar nicht besuchen konnte. Die Kinder hatten sie fast seit Beginn der CoZe nicht gesehen, was ihnen den Abschied vielleicht etwas leichter gemacht hat. Natürlich aber merkten sie meine Sorgen, natürlich habe ich versucht, meine Mutter so oft es eben ging zu besuchen. Bis auch das untersagt wurde und sie schließlich auch nicht mehr telefonieren konnte. Tage, die mir vorkommen, als seien sie unter einer Käseglocke verborgen. Die letzten Tage vor ihrem Tod verbrachte sie im Hospiz, wo die Zeit noch ganz genau reichte, dass jede von uns 3 Schwestern sich 1 x verabschieden konnte. Es folgten eine Beerdigung unter Corona-Umständen und die Auflösung eines Lebens. Für meine eigene Trauer war bisher wenig Platz. Und deshalb möchte ich diesen Absatz jetzt unter Tränen beenden und warten, bis ich meiner eigenen Seele diese Zeit zugestehen kann.

 

Die Weihnachtsferien rollten erstmals bedrohlich auf mich zu, ahnte ich doch, dass es die längsten Weihnachtsferien meines Lebens werden würden. So ermutigte ich die Kinder in dieser Vorweihnachtszeit, Verabredungen mit einzelnen Freunden zu treffen, erklärte ihnen, dass meine Trauer, nicht ihre Trauer sei, dass sie nicht auf mich aufpassen müssten und versuchte, nach der Beerdigung zum Schein-Alltag zurückzukehren. Aber ich gebe gerne zu, dass auch ich in dieser Zeit vor Weihnachten, die ganz ohne jede Weihnachtsfeier daher kam, Schule relativ egal fand und dennoch allein die Tatsache, dass sie regelmäßig stattfand, mir ein beruhigendes Gefühl gab, was das Seelenleben meiner Kinder anging.

 

IHRE beste Freundin hat einen Freund, ungefähr seit der Erkältung. Die Treffen der Mädchen sind seitdem sehr selten geworden. Der Trost an SIE, die in der Schule noch nie geweint hat, den die Freundin IHR zum Tod der Oma in der Pause spenden wollte, wurde erst von einer Lehrerin unterbrochen, die das weinende Mädchen mit harten Worten aus der Umarmung der Freundin löste und dann vom Freund, der die Freundin einfach mitnahm. SIE, die immer eine gute Esserin war, die nie dick war, die immer schon alles gerne mochte und nie Dinge aussortiert hat, muss in dieser Zeit aufgehört haben mit dem Essen. SIE sitzt oft vor dem Spiegel und bemüht sich, ihr so hübsches Gesicht unter Schminke zu verstecken.

 

Nach den Ferien, die nicht endeten, begann die zweite CoZe. IHR Rhythmus, der sich in den Ferien eingeschlichen hatte, abends lange wach zu bleiben und morgens nicht aufstehen zu können, wollte nicht aufhören. Manchmal schaffte es dieser eine Junge, SIE zu einem Treffen zu überreden. Danach ging es IHR jedes Mal gut – und auch wenn ich diesen Jungen noch nie gesehen habe, war er mein Held in dieser Zeit. Bis SIE herausfand, dass er mit mehreren Mädchen gleichzeitig schrieb. Das tut er vermutlich noch – nur seitdem mit IHR nicht mehr, vielmehr SIE mit ihm nicht mehr. Ich merke, dass jedes morgendliche Aufstehen schwerer für SIE wird. Das Bett hält das schmale Mädchen fest und meine Worte prallen wirkungslos an IHR ab. Die Kamera bleibt in den Konferenzen aus, denen SIE nur noch aus dem Bett und passiv folgt. Selten schafft SIE es, die Abgabefristen einzuhalten, zu duschen, Haare zu waschen. Manchmal schreibt SIE mir nachts Nachrichten, nachdem wir beide noch bis Mitternacht zusammen gesessen und geredet haben, die morgens nach einer schlaflosen Nacht auf mich lauern und die meine Angst füttern.

 

Nachdem ich meine Mutter verloren habe, liege ich schlaflos in meinem Bett und fürchte, dieses starke Mädchen zu verlieren, das meine Tochter einmal war. An einigen Tagen kommt SIE an die Oberfläche, dann denke ich, dass ich Gespenster gesehen hätte und dass das alles Einbildung sei. Die Freunde im virtuellen Raum scheinen keine Veränderung an IHR zu bemerken, aber SIE redet auch nicht von sich, und keiner scheint mal zu fragen. Und weil die Freunde das so kennen und jeder momentan nur sehr eingeschränkt hier und da außerhalb des Hauses mal jemanden trifft, fällt es nicht so auf, dass SIE das Haus fast nicht mehr verlässt. SIE verabredet sich selten zum Schein und Selbstbetrug und sagt dann kurzfristig ab.

 

Es fällt mir schwer, die Auswirkungen, die die CoZe, der Verlust der Freundin, der Verlust des Freundes, der Verlust der Oma, der Verlust des Rhythmus, der Verlust der erzwungenen Sozialkontakte, der Verlust des Anschlusses in der Schule, der Verlust des Appetits, der Verlust der eigenen Kindheit und der Pubertät zu unterscheiden. Welchen Unterschied macht es auch, ob das „normale“ oder „unnormale“ Umstände sind, die dazu geführt haben, dass das stärkste Mädchen der Welt ausfällt?

 

Ich habe die Hoffnung, dass ich die unnormalen Umstände so lange aushalte, bis nur noch die normalen Umstände übrig bleiben und dass ich bis dahin die Ruhe bewahre und den obersten Punkt der zweiten und viel wichtigeren Liste nicht aus den Augen verliere: für SIE da zu sein und die anderen Kinder nicht zu vergessen. Dabei geht es nicht, aber auch gar nicht darum, welche Noten am Ende des Jahres auf dem Zeugnis stehen werden, das schon in diesem Halbjahr einen Erdrutsch erlebt hat, sondern um das Vertrauen, dass SIE ihren Weg allen normalen und unnormalen Umständen zum Trotz gehen wird, dass SIE nicht noch zerbrechlicher und durchsichtiger wird und dass ich all diese Umstände mit Tee, Hühnersuppe und nächtlichen Gesprächen so lange in Schach halten kann, bis das stärkste Mädchen der Welt wieder da ist.

 

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