Die Sache mit dem schlechten Gewissen

Wenn ich versuche, alle Zeichen der Vergangenheit in mein Gedächtnis zu rufen, gelingt mir das oft nicht, zumal diese Zeichen retrospektiv ganz anders gewertet werden müssen, als ich es damals empfunden habe. Was mir bleibt, ist ein schlechtes Gewissen, wenn mir Situationen einfallen, in denen ich aus heutiger Sicht vollkommen anders handeln würde.

 

Ein Barhocker ist ein Barhocker - wir waren am letzten Wochenende am Meer und besuchten ein Restaurant mit Sitzplätzen im Außenbereich. Es war brechend voll, und es gab keine Tisch-Auswahl für 5 Personen. Der einzige, der nach einer Wartezeit frei wurde, war ein hoher Tisch mit einer hohen Bank und 4 Barhockern daran. Ich setzte mich bereits und wartete auf meine Familie, die ich per Handy verständigt hatte. Ich winkte sie fröhlich zu mir und wies Lena einen der Barhocker zu. Sie schaute den Hocker an und entschied spontan, dass sie auf diesem nicht sitzen könne, weil er zu hoch sei und sie darauf Höhenangst bekäme. Sie könne nur auf der Bank mit dem Rücken zur Wand sitzen. Also stand ich auf und setzte mich auf den Barhocker, um den Platz auf der Bank frei zu machen. Einfach so. Es kam mir nichtmal komisch vor. Hinterher allerdings dachte ich lange über diese absurde Situation nach und darüber, wie ich früher reagiert hätte. 

 

Ich mag mich nicht besonders bei dem Gedanken, dass ich vielleicht angenommen hätte, dass das mit der Höhenangst nicht stimmen könnte und sie nur den vermeintlich besten Platz für sich haben wollte. 

 

Als Lena in der 2. Klasse war, hat ihr Weg von der Schule bis zu dem Punkt an dem ich auf sie wartete immer viel länger gedauert als der der anderen Kinder. Gefühlt habe ich stundenlang auf diesem Parkplatz gestanden mit dem Druck im Nacken, die Schwester vom Kindergarten abzuholen und das Kleinkind im warmen Auto auf dem Rücksitz zu haben oder noch Einkäufe erledigen zu müssen. Ich stand damals mit 3 kleinen Kindern eigentlich immer unter Druck. Eines Tages - ich musste noch dringend Getränke kaufen - waren wieder einmal alle anderen Kinder schon auf dem Parkplatz angekommen. Von Lena keine Spur. Sie hatte sich sicher auf dem kurzen Weg wieder verloren bei der Beobachtung einer Schnecke oder bei der Suche schöner Steine.

 

Es war die Zeit, in der ich annahm, dass es eines Tages keine Steine mehr geben würde, weil meine Lena alle Steine der Welt eingesammelt haben würde und ich sie nach und nach in meiner Ungeduld und meinem Unverständnis vor dem Waschen aus allen Taschen von Hosen und Jacken heraus gepult und in der Mülltonne entsorgt haben würde. Als alle Kinder angekommen waren - außer Lena - entschied ich, vom Parkplatz loszufahren und Getränke zu holen. Ich war sicher: Lena würde wissen, dass ich auf jeden Fall kommen würde, um sie zu holen, und ein kleines bisschen dachte ich auch an eine "Lehre", dass man pünktlich kommen muss. Ich fuhr also so schnell ich konnte zum Getränkehandel und wieder zurück zu dem Parkplatz, wo einsam der kleine Schulranzen von Lena stand, der mir auf dem großen Parkplatz vermutlich noch viel kleiner erschien, als er es wirklich war. 

 

Es gab damals kein Handy in Lenas Ranzen und auch niemanden, der ihr versicherte, dass ich schon kommen würde. Es gab nur ihren Weg, der so viele spannende Dinge für sie bereit hielt, dass er immer länger dauerte als der Weg der anderen, die mir oft augenrollend zuriefen, dass Lena wieder einmal trödele. 

 

Ich weiß nicht, ob Lena sich an diese Situation erinnert, aber ich erinnere mich an ihren traurigen Blick, als ich stolz und fest in meinem Glauben, dass ich absolut richtig gehandelt hatte, auf den Parkplatz fuhr. Ich nahm damals wirklich an, dass sie es nun sicher gelernt haben würde, dass sie mich nicht mehr so lange warten lassen würde. Heute frage ich mich, wie ich so hartherzig sein konnte.

 

Als Lena 5 war, war ihre kleine Schwester 3, und ein weiteres Kind kam zur Welt. Ich erwartete so viel von Lena. Sie sollte sich morgens alleine anziehen und bereit sein, wenn es in die Vorschule ging. Ich musste schließlich die beiden anderen Kinder anziehen. Was ich da von ihr forderte, erscheint mir rückblickend so überfordernd, dass ich es gerne vergessen würde. Mal unabhängig davon, dass ein 5jähriges Kind noch klein ist und Hilfe brauchen DARF, habe ich so oft die Nerven verloren und ihr die Sachen dann in Windeseile, mit großer Ungeduld und ohne Liebe über den Körper gezerrt. Ich frage mich heute, wie ich so sein konnte. 

 

Es gibt so viele Dinge, die ich heute anders sehe. Einerseits sehe ich die Dinge sicher anders, weil ich älter geworden bin, weil die Kinder älter geworden sind, weil mich das Leben mit 3 Kleinkindern und heute 3 Teenagern gestählt hat. Aber ich sehe einige Dinge auch deshalb anders, weil ich heute die Diagnose kenne und mich damit auseinandergesetzt habe. Ich frage mich, ob ich aufmerksamer hätte sein müssen. Ich weiß, ich hätte viel geduldiger und milder sein müssen. Ich habe unmögliche Dinge von einem Kind gefordert, für das die Welt an sich schon viel zu schnell und zu laut und zu hoch war und ist.

 

Ich fürchte, ich habe sie jeden Tag mit Macht auf einen Barhocker gesetzt und ihr den sicheren Platz auf der Bank mit dem Rücken zur Wand verwehrt. Ich weiß. dass Lena mir heute mein Handeln nicht bewußt übel nimmt, aber ich selbst kann mir nur schlecht verzeihen, dass ich ihr so viel Sicherheit nicht gegeben habe, die sie so dringend gebraucht hätte. Ich hoffe, dass ich eines Tages milder mit mir sein kann. 

 

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