Eine Liebeserklärung

Kurz nachdem ich diesen Artikel schrieb, ist die Situation zu Hause so schwierig geworden, dass wir alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, eine Psychiaterin für unsere Tochter zu finden.

 

Als ich dich das erste Mal in den Armen hielt, hatte ich nicht so sehr dieses Glücksgefühl, von denen viele frisch gebackene Mütter immer erzählen. Ich musste mich an das Gefühl gewöhnen, nun eine riesengroße Verantwortung zu tragen. Gerade neulich habe ich gelesen, dass Gefühle nicht gut oder schlecht sind. Gefühle sind da. Das größte aller Gefühle war an diesem Tag, dass ich dich von nun an beschützen muss. Und das habe ich getan.

 

Ich bin davon überzeugt, dass jede Mutter mehrerer Kinder immer eines hat, auf das sie besonders gut aufpassen muss, um das sie sich besonders große Sorgen macht, bei dem sie heimlich Netze spannt und doppelte Böden einzieht, nur damit diesem Kind nichts passiert. Dieses Kind bist du.

 

Im Kindergarten warst du die, die sich mit einem Mädchen sehr gut verstand, das aber schon vorher eine „beste Freundin“ hatte. Du hast nicht verstanden, warum ihr nicht zu dritt befreundet sein könnt. Aber die „beste Freundin“ wollte das eben nicht. Sie fragte das Mädchen gern und oft vor allen anderen und natürlich auch vor dir, wer denn nun ihre beste Freundin sei. Das sei ja sicher sie. Und sie dürfe auch neben diesem Mädchen sitzen. Nicht du.

 

Später warst du glücklich mit 2 Jungs befreundet. Ihr wart eine tolle Truppe, bis einer der Jungs entschied, dass er mit Mädchen nicht mehr spielen wolle. Du hast nicht verstanden, warum nicht Jungs und Mädchen gemeinsam spielen können. Aber einer der Jungs wollte das eben nicht. Er verbot dem gemeinsamen Kumpel die Spiele zu dritt und fand viele Argumente gegen Mädchen. Und dieser Junge war dann der beste Freund deines Kumpels. Nicht du.

 

In der Grundschule wart ihr endlich zu viert. Vier Mädchen – es hätte schön sein können. Aber zwei von euch waren stark und selbstbewusst. Du warst eine von den beiden ruhigen Mädchen – und so kam es, dass eines der starken Mädchen auf ihre ruhige Freundin aus der Vorschule aufpasste. Und immer, wenn ihr beide euch näher fühltet, hat sie alles daran gegeben, das zu verhindern. Bis heute glaube ich, dass sie überhaupt kein Interesse an einer Freundschaft mit dem Mädchen hatte. Aber sie wollte das Mädchen für sich haben. Ich erinnere mich an deinen Geburtstag, an dem die „Starke“ auf dem Fahrrad saß, die ruhige Freundin auf dem Gepäckträger. Du hast vorsichtig gesagt, es sei doch dein Geburtstag, da könnten doch alle zusammen etwas spielen. Aber die beiden fuhren dir einfach davon.

 

Du hast angefangen, dich zu räuspern. Immer wieder. Beim Essen, beim Nicht-einschlafen-können, im Auto, in der Badewanne, beim Hausaufgaben machen. Begleitet wurde das von unkontrolliertem Augenrollen. Mit viel Willenskraft hast du es geschafft, die Tics nur außerhalb der Schule zuzulassen. Das Augenrollen blieb sehr lange, aber du hattest eine Brille bekommen und eine anstrengende Technik entwickelt, das Augenrollen nur hinter den geschlossenen Lidern zu machen. Bis heute hast du schmerzempfindliche Augen. Aber die Tics wurden irgendwann weniger – unsere Anstrengungen dazu würden an dieser Stelle zu weit führen.

 

Du hast kurz vor dem Wechsel in die weiterführende Schule entschieden, dass du diese Gruppe Mädchen verlassen möchtest. Du wusstest, dass dein Platz innerhalb der Gruppe zementiert war: du durftest nur mit dem ruhigen Mädchen befreundet sein, wenn es die andere gerade nicht störte. Du warst so mutig und hast mich eine Woche vor den Sommerferien gebeten, deine Wahl rückgängig zu machen, um in eine andere Klasse gehen zu können und neu anzufangen.

Dein Neuanfang war schwer. Auch hier gab es bestehende Freundschaften, in die man als Mädchen nicht eindringen konnte. Du kamst alleine. Erst später fiel auf, dass eines der anderen Mädchen ganz genau wusste, welche Mädchen alleine kamen. Ganz bewusst hat sie genau diese Mädchen geärgert. Dass du in der Schule nicht mehr gegessen hast, war die Folge davon, dass sie dir sagte, du sähest aus wie ein Kamel beim Kauen. Schlimm war, dass alle Angst vor diesem Mädchen hatten und lieber mitlachten, als sich gegen sie zu stellen. Später, viel später, ist genau das passiert und das Mädchen verließ die Schule, weil ihr alle sie angeblich gemobbt habt. Du aber kannst bis heute dein Brot nicht einfach auf dem Schulhof essen.

 

Bis heute hast du es nicht leicht gehabt. Deine heute beste Freundin hatte es diesbezüglich immer leicht. Und deshalb nimmt sie auch alles leicht. Das Leben, die Freundschaften, die Schule, die Sorgen, die sie nicht hat. Seit der 5. Klasse wolltest du mit diesem Mädchen befreundet sein, mit der immer alle befreundet sein möchten, für die immer alle schwärmen, an deren Lippen alle hängen. Hat sie ihre Sachen gepackt, verlassen alle Mädchen zusammen den Klassenraum, auch wenn du noch nicht fertig bist und alleine zurück bleibst.

 

Wenn 5 Jungs deine Freundin umschwärmen, musst du ihnen Tipps geben. Wenn es dir nicht gut geht, kann sie dich nicht verstehen. Als der Lockdown war, hatte sie ihren Freund und für dich keine Zeit. Als es endlich wieder raus ging, hat sie sich von ihrem Freund getrennt und dir gesagt, dass es nun wirklich nicht passen würde, wenn du nun einen Freund fändest, wo ihr endlich zusammen los gehen könntet. Und seid ihr zusammen unterwegs, bist du nur die „Freundin von…“.

 

Einer hat für dich die Welt auf den Kopf gestellt. Er hat für dich gekocht und dich ins Kino eingeladen. Er hat dich nach Hause gebracht und dich geküsst. Er war der erste, der dich geküsst hat. Er hat dir gesagt, wie froh er ist, dich zu haben und wie schön er dich findet. Nach 4 Wochen und einer Feier wollte er dafür unter Alkoholeinfluss mehr als einen Kuss, und als du 2 Mal "Nein" gesagt hattest, weil du mehr Zeit brauchst, musstest du dich leider auch noch körperlich zur Wehr setzen, weil er dein "Nein" nicht akzeptierten konnte. Er war er beleidigt und hat ein paar Tage später lieber eine andere geküsst, als dir mehr Zeit zu geben.

 

Ich weiß, dass du dir an dem Abend nicht das erste Mal die Oberschenkel aufgeschnitten hast.

 

Ich könnte an dieser Stelle viele Eigenschaften aufzählen, die dich zu einem schwierigen Menschen machen. Mache ich auch. Zumindest ein paar. Du bist wirklich unpünktlich. Du bist total chaotisch. Dein Zimmer ist eine Katastrophe. Seit Corona geht in der Schule wirklich nichts mehr. Du bist ein Morgenmuffel. Du sprichst im Schlaf. Du kannst einem furchtbar auf die Nerven gehen. Dein Humor ist manchmal sehr speziell. Du kannst sehr wütend werden – als Kind hast du vor Wut gezittert. Du bist manchmal aufbrausend und ungeduldig.

 

Und trotzdem hast du es verdient, dass die Menschen um dich herum dich so sehen, wie ich das tue. Es gibt niemanden auf dieser Welt, der so wenig über andere Menschen urteilt wie du. Immer hast du für alle eine gute und entschuldigende Erklärung. Du fühlst sogar mit Verbrechern, für deren Verhaltensweisen du nach Gründen suchst. Du akzeptierst jede Sexualität. Du verlierst kein schlechtes Wort über irgendjemanden. Nichtmal über deine beste Freundin. Du bist mit Abstand der loyalste Mensch, den ich kenne und auf den man sich 100prozentig verlassen kann (wenn es nicht darauf ankommt, ob du auch ganz pünktlich bist). Du bist unabhängig und möchtest frei sein, aber interessierst du dich für einen Jungen, dann interessiert dich auch nur dieser eine Junge, auch wenn du mit anderen noch redest. Niemals würdest du mehrere gleichzeitig daten, weil schon die Vorstellung, bei einer Entscheidung die anderen vor den Kopf zu stoßen, dir Angst und Schrecken einjagt. Du bist total klar in deinen Entscheidungen und würdest nie im Leben jemanden hintergehen, der dir wichtig ist. Vermutlich nichtmal jemanden, der dir nicht wichtig ist. Du bist absolut ehrlich – wenn du mir versicherst, dass eine Sache so oder so gewesen ist, dann weiß ich, dass das auch so war. Das macht es mir leicht, für dich einzustehen. Menschen, die sich mit Lügen ins rechte Licht rücken, durchschaust du schnell, obwohl du auch dafür gute Beweggründe suchst. Du bist der treueste Mensch, den ich kenne. Jeder, den du in dein Herz schließt, kann darüber glücklich sein, dich zu seinen Freunden zu zählen! Aber der Weg in dein Herz ist schwer zu finden. 

 

Trotzdem scheint dich niemand zu erkennen. Trotzdem wurde dem Einen, der dir gerade wichtig ist, gesagt, du „ließest jeden ran“. Trotzdem wurdest du auf der letzten Party als Schlampe bezeichnet, weil du angeblich mit einem anderen Händchen gehalten hättest. Trotzdem nimmt dich keiner an die Hand und hilft dir einfach mal, in der Schule wieder den Anschluss zu finden. Trotzdem findest du nicht diese eine Freundin, von der du schon so lange träumst. Trotzdem macht sich niemand die Mühe, mal an deiner Oberfläche zu kratzen und zu gucken, was dahinter steckt.

 

Ich wünsche mir, dass die Menschen um dich herum nicht mehr nur die Fassade sehen, die ich so wunderschön finde. Vielleicht wirkst du unnahbar, selbstbewusst, unverletzbar, aufgedreht, lustig, nervig. Aber deine Haut ist so dünn, und ich weiß, dass du dich in den Pausen fragst, unter wie vielen Hosen die gleichen Narben und Schnitte zu sehen sind, wie bei dir. 

 

Ich weiß, dass du darauf bedacht bist, niemanden zu verletzen, und ich habe dich wirklich noch nie einfach „tratschen“ hören. Was du erzählst, hast du gesehen und wägst deine Worte vorsichtig im Mund, bevor du sie aussprichst. Jemanden nach seinem Äußeren zu beurteilen, käme dir nie in den Sinn. Außer, dass du über alle Mädchen immer nur sagst, sie wären so hübsch oder so nett. Du hast es mehr als alle anderen verdient, nicht die „Freundin von…“ zu sein, sondern du selbst!

 

Ich habe Netze gespannt und doppelte Böden gebaut. Ich habe versucht, dich zu stärken und dir Wege zu zeigen. Ich habe dein Lieblingsessen gekocht und dich getröstet. Ich habe zugehört und geredet. Ich habe Ratschläge gegeben und mich mit dir verliebt. Ich habe dich ins Bett gebracht und dich zugedeckt. Ich habe deine Haare im Schlaf gestreichelt, weil du oftmals nichtmal von mir berührt werden möchtest. Ich hatte mit dir Liebeskummer und Mordgelüste (die hatte natürlich nur ich – du hast wieder einmal alles verstanden). Alles, was du bislang erlebt hast, hat dich zu diesem tollen Menschen gemacht, der du bist. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du die Freundin findest, von der du mir vorhin erzählt hast. Ich wünsche dir mehr als alles andere, dass die Angst dich nicht immer begleiten möge, nicht gut genug oder eben nur die „Freundin von…“ zu sein. Ich wünsche mir, dass einer das Gold in deinem Inneren erkennt und um dich kämpft, und ich bin bereit, mich ohne jedes Vorurteil mit dir zusammen in ihn zu verlieben (und ihn umzubringen, wenn er es verbockt). 

 

Ich wünsche mir, dass du die Menschen findest, die die Mauern um dein weiches Herz einreißen und die niemals auch nur ansatzweise glauben würden, was andere über dich erzählen. Ich wünsche dir, dass die tollsten Menschen der Welt dein Herz erkennen und verstehen, dass sie es nicht leichtfertig zerstören dürfen, sondern es beschützen müssen. Ich wünsche mir für dein Leben Geborgenheit in Freundschaften und Liebe und die Erkenntnis und Geduld, dass du wie ein scheues Tier eine ganze Zeit brauchst, bis du eine Berührung zulassen kannst. Ich wünsche dir, dass du Gefühle zulassen kannst, obwohl es sein könnte, dass du enttäuscht und verletzt wirst. Ich wünsche dir, dass du den Schmerz, den du dir selbst zufügst nicht mehr brauchst, um dich zu fühlen, weil es genug Gefühle gibt, die dir keine Narben hinterlassen werden!

 

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