Die Sache mit dem Ritzen

Als ich zufällig entdeckte, dass sich am Oberschenkel meiner Tochter ein Feld aus Narben und Verletzungen befand, fühlte es sich an wie ein Schlag. Wie ohnmächtig musste ich beobachten, wie meine Befürchtungen noch übertroffen wurden.

 

Es war alles nur eine Theorie! Als es Lena so schlecht ging, habe ich sie gefragt, ob sie das Bedürfnis hätte, sich selbst zu verletzen. 

 

Sie war klar in ihrer verneinenden Antwort. Ich wog mich in trügerischer Sicherheit, denn ihre immer größer werdende Angst vor Spritzen und Blut bedeckte milde meine darum kreisenden Gedanken. 

 

Das muss Anfang letzten Jahres gewesen sein, als mein hilfloser Strudel begonnen hatte und ich versuchte, jeden Strohhalm zu ergreifen. Der Strohhalm in diesem Fall lautete: "Wenigstens nicht das." Ich bat sie, mir Bescheid zu geben, falls das passieren sollte. Wie naiv!

 

Wann auch immer es begann, ich habe es nicht bemerkt. Jetzt weiß ich, dass es zuerst nur die Enden von Büroklammern gewesen sind, mit denen sie ihre Haut berührte, kratzte, stach. Jetzt weiß ich, dass jemand, der mit dem Ritzen begonnen hat, in jedem Raum X Gegenstände wahrnimmt, die dazu dienen könnten, sich selbst Schmerzen zuzufügen, sich selbst überhaupt zu spüren.

 

Ich kann nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlen muss. Aber ich kann beschreiben, wie ich davon erfuhr und wie es mir als Mutter damals damit ging und heute damit geht. Meine Tochter tat alles, damit ich es nicht sah, damit niemand es sah. Dass die Selbstverletzung dazu da ist, für sich Aufmerksamkeit zu generieren, trifft es möglicherweise in einigen Fällen, aber hier ging es um etwas anderes. 

 

Im Sommer letzten Jahres kam Lena scheinbar aus dem Nichts auf die Idee, mal wieder joggen zu gehen. Ich hatte Zeit und fragte, ob ich sie auf dem Rad begleiten solle. So lief sie nach langer Zeit endlich mal wieder eine Runde, wirkte - glaube ich - entspannt, und wir redeten ein bisschen. Zurück zu Hause zog sie sich ihre Schuhe aus und stellte dafür den rechten Fuß auf einen Terrassenstuhl, als ihre kurze und enge Hose ein Stückchen hoch rutschte und mein Blick auf den oberen Bereich ihres Oberschenkels fiel.

 

Als Linkshänderin hatte sie ihren rechten Oberschenkel mit einem Muster versehen, das man am ehesten mit den Rauten vergleichen kann, die der Schlachter mit dem Messer in die Schwarte eines Schweinebratens ritzt.

 

Was heute nüchtern klingt, hat mich damals aus der Bahn geworfen. Ich erinnere mich an den Blick auf die Verletzungen und an meinen Blick in ihre Augen. Ich erinnere mich an ihre Scham und mein Entsetzen. Ich erinnere mich daran, dass ich sofort mit ihr reden wollte und sie wortlos ging. Meine Frage nach dem WARUM blieb unbeantwortet in dem Moment. Das Rauschen in meinen Ohren war zwei Tage sehr laut. 

 

Ich hatte damals das Gefühl, vollkommen versagt zu haben. In meiner Naivität nahm ich an, dass das das erste Mal und nur 1 x passiert war. Ich dachte, dass ich "es" kontrollieren könnte. Am Anfang geriet ich in Panik, wenn Lena länger im Bad war. Ich kontrollierte die Anzahl der Messer in der Küche, ich schaute mir die Klingen und Schnittflächen von Nagelscheren und Pinzetten genau an und suchte nach Blutspuren. Viel später wusste ich, dass am allerbesten diese Augenbrauen-Klinge mit Griff funktioniert. Sie muss nichtmal scharf sein. Ich kaufte eine Wundsalbe und eine Narben-Creme. Ich schielte heimlich auf die freien Teile des Oberschenkels und war immer froh, wenn mal eine sehr kurze Hose kein frisches Blut offenbarte. 

 

Jetzt, wo ich schon viele Schnitte und Narben gesehen habe und mehr als einmal mit dem Wunsch, nicht "mehr da" zu sein oder gar Suizid zu begehen, konfrontiert wurde, bin ich abgehärtet, habe mir eine dicke Haut zugelegt. Als Mutter treffen die Verletzungen direkt in dein Herz - und was dich nicht zwangsläufig umbringt, härtet dich ab. 

 

Letztlich war ein Zusammenbruch im letzten Herbst der Auslöser für die Suche nach den Ursachen. Hatte ich es bis dahin noch als eine Art "schlimmen Trend" angesehen, der vermeintlich von mir beobachtet / kontrolliert werden konnte und der aus meiner Sicht bis dahin nur 1 - 2 x stattgefunden hatte, schrieb sie mir eines Abends, ich solle sofort kommen, sie könne nicht mehr. 

 

Als ich sofort nach oben stürzte, saß sie auf ihrem Bett und schaute weinend auf ihre blutenden Wunden. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Plötzlich war klar, dass sie eine andere Hilfe brauchte als meine. 

 

Heute wissen wir, dass ADS als Auslöser für die Begleiterkrankungen Selbstverletzung, Depressionen und Angststörung fungierte. Zu unserer Suche nach den Ursachen und der Suche nach einem Therapeuten werde ich später noch schreiben. Auch dazu, wie unsensibel einige Klassenkameraden in absoluter Unwissenheit mit diesen Themen umgehen. Aber um ehrlich zu sein, wusste ich schon kaum, wie ich damit umgehen soll. Wie hoch können da meine Erwartungen an Jugendliche sein? 

 

Heute sind die Schnitte fast alle gut verheilt. Einige sind noch als kleine weiße Striche sichtbar, die ein bisschen an Dehnungsstreifen erinnern. Zwei etwas größere Narben sind geblieben, die hoffentlich noch ein bisschen flacher werden. 

 

Letzte Woche waren wir mit der Familie essen. Als Lenas Ärmel hoch rutschte, sah ihr kleiner Bruder viele Schrammen an ihrem rechten Unterarm und fragte laut, woher die kämen. Während sie erklärte, sie wäre mit dem Rad und einem Arm in einem Dornenbusch gelandet, hörte ich wieder das Rauschen in meinen Ohren. 

 

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