Die Sache mit den Geräuschen

Laut ist für Lena etwas anderes als für uns. Sie weinte früher, wenn ihre Schwester laut ein Hörspiel hörte. Es war zu laut. Heute sind ihre Lieblingsorte laut, denn das überdeckt die vielen Geräusche in ihrem Kopf. 

 

Wenn Lena in der Schule sitzt, hört sie das Husten ihres Sitznachbarn und das Niesen von hinten. Sie hört, dass 4 Sitze weiter der Stift in der Federtasche gesucht wird und das Knarren, das der Stuhl hinter ihr beim Kippeln erzeugt. Vor ihr kramt ein Mitschüler im Rucksack nach dem Buch und neben ihr klappert der Bleistift ihrer Freundin an deren Zähnen. Draußen regnet es. Es rauscht - und wie bei einem tropfenden Wasserhahn fällt hin und wieder ein dicker Tropfen auf die Fensterbank. Die Lehrerin erklärt die französische Revolution und bestätigt jeden ihrer Sätze damit, dass sie mit dem Fingernagel auf das Pult tickt. Vorne rechts zieht jemand die Nase hoch, hinten wird geflüstert. Ein Kichern.

 

Wie riesige Trichter fühlen ihre Ohren sich an. Sie schafft es nicht, die Geräusche voneinander zu trennen. Wirklich - sie möchte etwas über die französische Revolution lernen, aber die Stimme der Lehrerin kann sie nicht herausfiltern aus all den gleich wichtigen Geräuschen. Dabei weiß sie genau, dass eines der Geräusche wichtiger ist als alle anderen. Sie weiß das sogar besser als andere, denn ihr IQ ist hoch. So hoch, dass er trotz der Einschränkungen durch die schlechte Konzentrationsfähigkeit durchschnittlich immer noch deutlich im Bereich der Hochbegabung liegt. Würde sie mit der Lehrerin alleine in einem Raum sitzen, wäre diese verblüfft davon, dass Lena gar nicht so dumm ist, wie sie sonst im Unterricht erscheint, so fahrig und abgelenkt, manchmal störend in ihrer Entrücktheit. Jonas - der nicht müde wird, ihr zu sagen, dass er sie für "gar nicht besonders schlau" hält - wäre vermutlich auch erstaunt. 

 

Mitschüler nehmen sich heraus, ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie wohl "nicht besonders schlau" sei. Sie ist so schlau, dass sie weiß, dass sie mit niemandem von "denen" nach dem Ende der Schule noch etwas zu tun haben möchte. Manchmal ist einer überrascht: "Du bist ja gar nicht so dumm" hat sie hin und wieder schon gehört. 

 

Dabei befinden sich übertragen in ihrem Kopf mindestens 20 Fax-Geräte - das ist nur für den Vergleich, weil ein Fax-Gerät eben nicht nach wichtig und unwichtig unterscheidet, sondern einfach nacheinander das ausspuckt, was gerade ankommt - die unsortiert Werbung, Rechnungen, Informationen, Bestellungen, Kontoauszüge, Zeugnisse, Kochrezepte, Gesetzestexte usw. in ihrem Kopf zusammen werfen. Und für sie ist auf den ersten Blick eben alles ungefähr gleich wichtig und gleich interessant und gleich laut. Erstmal alles ansehen, das Kochrezept spannend finden und mit dem Kochen beginnen. Damit aufhören, weil immer mehr Sendungen ankommen. Die Werbung für kommende Woche ansehen und dann zur Seite legen, weil der Kontoauszug mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und immer länger werdende Zettelrollen fallen nacheinander auf den Boden. Der Versuch, sie wie heiße Kartoffeln mit den Händen zu jonglieren. Immer noch auf der Suche nach dem richtigen Zettel mit der französischen Revolution. Panik. 

 

Das Lernen am Bildschirm ist für sie schwierig, auch wenn da die Nebengeräusche besser steuerbar wären. Sieht sie ihrer Lehrerin nicht in die Augen, hat sie die Chance, mit den Gedanken abzuschweifen, wenn das Thema sie nicht zufällig fesselt. Ich werde in einem späteren Blog auf den Hyperfocus eingehen. Spannend, hilfreich, nicht steuerbar. 

 

Nach und nach haben wir es gemeinsam geschafft, alle Newsletter abzubestellen, die ihr Postfach fluteten. Eine Webseite bot über 40 unterschiedliche Newsletter an - hat sie alle abonniert oder eben nicht NICHT abonniert. Zwischen all den Mails fiel es ihr schwer die Mails der Lehrer überhaupt zu sehen. Alle Mails sind für sie erstmal gleich wichtig. Und dann öffnete sie das Postfach einfach nicht mehr, als über 500 Mails im Posteingang auf sie lauerten. Ein Berg, der alleine unüberwindbar erschien. 

 

Man nennt das ganz einfach "Reizfilterschwäche". Was das aber für die Betroffenen bedeutet, kann wohl jemand ohne diese "Schwäche" nicht nachvollziehen, schon gar niemand, der niemanden mit einer Reizfilterschwäche kennt. Wobei: die Schüler*Innen um Lena herum "kennen" sie ja auch. Sie ist in deren Augen verpeilt, verplant, chaotisch, verträumt, abgelenkt, dumm. All das, was sie eigentlich nicht ist. Sie ist angestrengt dabei, ihre Defizite zu überspielen. Sie lacht mit, wenn wieder einmal jemand die Augen verdreht, wenn sie trotz aller Anstrengungen erneut versagt. Sie ist ja so verpeilt. 

 

Als wir noch nicht wussten, warum das so ist, habe ich auch mit Unverständnis auf das Chaos und das Postfach und die fehlende Struktur reagiert. Verstehen kann ich es bis heute nicht wirklich, und es ist auch nicht bei allen ADS-lern gleich. Es gibt Übereinstimmungen, aber gleichzeitig kann es sehr unterschiedlich sein. Es gibt auch Überschneidungen mit Autismus. Und so zeigt auch Lena deutliche autistische Züge, ohne Autistin zu sein. Auch wenn es mir schwer fällt, sage ich mir jetzt in vielen Situationen, dass sie "es nicht anders kann". Und dann schaue ich hin und wieder - mit ihrem Einverständnis - in das Postfach oder räume ein bisschen Chaos hinter ihr auf. 

 

Mit der Angst im Nacken, dass das vermutlich ihr ganzes Leben so sein wird, und sie dringend später einen Partner braucht, der damit umgehen kann und Vorgesetzte, die ihre Qualitäten erkennen, seufze ich eine unwichtige Mail nach der anderen weg.

 

Sie selbst versucht mit aller Macht, den Geräuschen eine Wichtigkeit zuzuteilen. Am besten geht es ihr - das ist ihre neueste Entdeckung - in sehr lauten Umgebungen, da z. B. die laute Musik in einem Club alle anderen Geräusche überdeckt. Wie in einem Großraum-Büro, in dem Lautsprecher ein Rauschen erzeugen, damit nicht alle Stimmen und das Tippen und die Gespräche der Kollegen die Konzentration der Arbeitnehmer stören. So ist laute Musik für sie wie eine Käseglocke, die nur noch die eigenen Gedanken erlaubt und ihr die Hetze zwischen den Geräuschen reduziert. Wenn sie heute Hausaufgaben macht und gleichzeitig mit den Kopfhörern Musik hört, meckere ich nicht mehr, dass sie sich so nicht konzentrieren könne. Ich weiß, dass das ihr Weg zu einer etwas besseren Konzentration ist. 

 

Die Diagnose war eine Erleichterung, weil sie so viel erklärt und weil es endlich einen Namen für "das Kind" gibt. Gleichzeitig ist sie eine lebenslange Hypothek mit wechselnd hohen Zinsen, die wir nicht für sie abbezahlen können. 

 

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