Die Sache mit den Medikamenten

Als wir endlich wussten, warum Lena ihr Potenzial nicht ausschöpfen konnte, war die erste Idee, ihre Konzentration mit Medikamenten herzustellen. Warum das nicht verwerflich ist, aber trotzdem nicht funktionierte. 

 

Nachdem die Diagnostik abgeschlossen war. waren wir Eltern erstmal so etwas wie erleichtert. Zwar hatten wir gar keine Ahnung von ADS, aber wir dachten, das sei "einfach". Wir haben uns getäuscht.

 

Zuerst musste ich mit meinen eigenen Vorurteilen aufräumen, was ADS angeht. Das sind doch die, die als Kind über Tische und Bänke springen, die immer stören und schlecht in der Schule sind. Das sind die, die immer beim Schulleiter sitzen und keine Freunde finden. Laute und störende Kinder, die keiner händeln kann. Meistens nicht erzogen, und die verzweifelten Eltern geben ihnen dann Medikamente, um sie ruhig zu stellen. 

 

Was ich gelernt habe ist, dass es von allem etwas ist - zumindest bei Lena: schlechte Konzentrationsfähigkeit bei überdurchschnittlicher Intelligenz, schlechte Organisationsfähigeit, ein bisschen Depression, Panikattacken, Reizfilterschwäche, mal Hyperaktivität und mal Hypoaktivität, Geräuschempfindlichkeit, Selbstverletzung, geringes Selbstwertgefühl bei hohem Selbstbewusstsein, Essstörung, hohe Emotionalität und Impulsivität, hohes Maß an Gerechtigskeitsempfinden usw.

 

Was ich hier schildere, sind immer die Dinge, die auf Lena zutreffen. Es kann bei anderen Menschen mit ADS auch ganz anders sein. Die Kombination mit der Hochbegabung ist nicht so oft, aber sie macht es nicht leichter oder schwerer, nur anders.

 

Auf jeden Fall war Lena sofort bereit, auf den Rat der Psychiaterin ein Medikament auszuprobieren. Das zweite Schulhalbjahr hatte gerade begonnen. Das Zeugnis war schlechter denn je. Lena wollte etwas ändern, und sie merkte ganz genau, dass nicht das Erfassen der Inhalte ihr Problem war. Fand sie die Themen interessant, waren die Lehrer*Innen, zugewandt, verstand sie - wie in Mathe glücklicherweise - komplizierte Sachverhalte schnell, gab es Lichtblicke.

 

Sie startete mit 5 mg Medikinet 2- 3 x am Tag und merkte... nichts. Sie nahm 10 mg 2 - 3 x am Tag und merkte etwas. Plötzlich konnte sie in Bio wieder zuhören und fand den Faden so schnell, dass die erstaunte Lehrerin merkte, dass sie, der sie im Halbjahr eine 5 gegeben hatte, plötzlich eine der Leistungsträgerinnen der Klasse war. Das war nicht in allen Fächern so, aber Lena merkte vor allem, dass sie nicht so dumm war, wie es ihr in der letzten Zeit so viele Klassenkamerad*Innen weiß machen wollten. Und eben diese Lehrerin merkte, dass etwas mit Lena passierte. Bei einem späteren Gespräch stellte sich heraus, dass ihr eigener Sohn eine Form des Asperger Autismus hat und dass ihre Antennen für Lenas "Andersartigkeit" plötzlich funktionierten. Sie - die strenge und nicht allzu beliebte Lehrerin - nahm Lena zur Seite und feuerte sie heimlich an. Sie machte ihr Mut und gab ihr den Glauben an sich selbst in Teilen zurück. Die beste Medizin!

 

Die Klassenlehrerin war die einzige Lehrerin, die wir kurz nach der Diagnose - und beim Gespräch über das schlechteste Zeugnis aller Zeiten - einweihten. Sie stellte in der Situation die einzig richtige Frage direkt an Lena: "Wie fühlt sich das an?". Sie runzelte nicht die Stirn über ADS an sich, sie zweifelte nicht an der Diagnose, sie zweifelte vor allem nicht an Lena. Die beste Medizin!

 

Lena merkte einen Effekt in der Schule und nahm 15 mg 2 - 3 x am Tag. Schließlich 20 mg. Wie in einem Tunnel - Lena merkte plötzlich, wie Konzentration sich anfühlt. Aber sie merkte auch, dass die unsichtbare - weil innere - Hyperaktivität plötzlich verschwand und dass sie sich noch viel weniger mochte als vorher. Sie brach die Einnahme einfach ab, obwohl ihre neue und ruhige Art zu Hause auch auf mich irgendwie entspannend wirkte. Herunter zu dosieren kam ihr gar nicht in den Sinn - in ihrer Impulsivität ging nur ganz oder gar nicht. Gar nicht also. Aus meiner Sicht ist "ihre Dosis" irgendwo bei 12,5 - aber sie kannte sich fast 16 Jahre vorher ohne Medikinet und fühlte sich plötzlich wie ein anderer Mensch. Hatte sie sich vorher manchmal geärgert, dass sie in einem Gespräch zu schnell zu viel von sich preisgegeben hatte, war sie plötzlich vollkommen herunter gefahren. 

 

Sie probierte dann noch ElVanse und Medikinet Retard. Beide waren so niedrig dosiert, dass es nicht half. Aber eine Ergänzung - so wie eigentlich gedacht - mit Medikinet kam für sie nicht infrage, also setze sie auch diese Medikamente wieder ab. Jedes Mal war die Einnahme auch mit der Hoffnung verbunden, dass es ihr dieses Mal helfen möge, ohne dass sie sich selbst nicht mehr kannte. Und jedes Mal hat es nicht geklappt.

 

Schließlich war nach der Diagnose fast ein halbes Jahr vergangen. Sie selbst hatte entschieden, ADS nicht als Bestandteil ihrer selbst zu akzeptieren, sondern dagegen zu kämpfen. Hoffnungslos, da sie täglich feststellen muss(te), wie sehr sie ADS hat. Sie informiert sich in Foren und schaut (natürlich) TicToks und nutzt andere Kanäle. Auch mich erstaunt es immer wieder, dass wir die Zeichen nicht ansatzweise erkannt haben. Aber sie war absolut sicher, auch noch etwas anderes zu haben als "nur" ADS. 

 

Als wir mit der Psychiaterin sprachen, die die Diagnose gestellt hatte, kamen wir auf die Begleiterkrankungen zu sprechen, die unsere Suche überhaupt ausgelöst hatten: Depressionen und Angststörung. In den allermeisten Fällen werden diese vor der ADS-Diagnose behandelt. In unserem speziellen Fall war aber die Psychiaterin so klar und schnell mit der Diagnostik, dass wir uns mit den Begleiterkrankungen gar nicht erst befasst hatten. 

 

Jetzt waren wir an einem Punkt, an dem wir dann das Pferd von hinten aufzäumen mussten. Lena wollte vor allem keine Depressionen mehr haben. Darin war sie absolut sicher. In Absprache mit der Psychiaterin begann ein neuer Versuch mit einem Antidepressivum (Venlafaxin retardiert 75 mg). Lena wollte das unbedingt. Ich bat die Psychiaterin um genaue Aufklärung (u. a. kein oder nur sehr wenig Alkohol, Wirkung erst nach 2 Wochen spürbar, Suchtgefahr, ganz regelmäßige Einnahme, Entzugserscheinungen beim Absetzen, kein plötzliches Absetzen möglich, Schwierigkeiten mit dem Zulassen körperlicher Nähe, Verflachung von Gefühlen usw.). Sie wollte es immer noch unbedingt.

 

Vielfach hatte ich gelesen, dass der Versuch, die Begleiterkrankungen zuerst zu behandeln den nicht diagnostizierten Patienten nicht half. Und nun wollten wir trotz der bekannten Diagnose an die Begleiterkrankungen heran? Es kam mir falsch vor. Ich hatte Angst.

 

Lena begann die Einnahme zu Beginn eines Schulpraktikums, das in die Sommerferien mündete. Zum Glück konnte ich also in dieser Zeit meine Sorgen um schulische Leistungen unbeachtet lassen. Außerdem hatte Lena sich trotz des Absetzens der ADS-Medikamente im 2. Schulhalbjahr wieder sehr verbessert. Sie hoffte wohl, dass sie sofort eine Wirkung spüren würde. So war es aber nicht. Bis es wirklich besser wurde, vergingen bestimmt ein paar Wochen. 

 

Heute würde ich sagen, dass es ihr zumindest überwiegend besser geht. Ich verglich ihre Gefühle damals mit einer Straße, die links und rechts Leitplanken hat. Sie konnte nicht geradeaus in der Mitte fahren, sie konnte auch nicht mittig wechselnd große Schlangenlinien fahren. Sie konnte nur im schnellen Wechsel von einer Leitplanke an die andere donnern und dann so lange daran längs schrammen, bis es wieder in die andere Richtung ging. Die Psychiaterin hat in einem Gespräch gesagt, sie könne nur entweder "alles geben" oder hätte einen Burnout.

 

Ich habe lange vor der Diagnose mal zu Lena gesagt: "Wärst du ein Auto, gäbe es bei dir nur Vollgas oder Motorschaden". 

 

Momentan kann man sagen, dass das Antidepressivum ihr hilft, in der Mitte zu fahren. Mir ist klar, dass das nicht ihr Leben lang so sein wird. Sie hat wieder abgenommen - die Dosierung ist im Verhältnis zu ihrem Gewicht zu hoch. Aber besser wäre, wenn sie zunehmen würde, als die Dosierung herunter zu fahren. Noch besser wäre es, trotz Zunahme die Dosierung etwas zu verringern. Aber wir müssen geduldig sein!

 

Momentan, sagt Lena, käme sie gut mit in der Schule. Aber sicher wissen, können wir das erst nach den ersten Klausuren. Wir werden in diesem Schuljahr keinen Druck machen und sie nur dann unterstützen, wenn sie uns um Hilfe bittet. Sie ist jung genug, um im Zweifel eine Klasse zu wiederholen, die Schule zu wechseln, einen anderen Weg zu gehen. Sie hat ihren mittleren Schulabschluss in der Tasche, was beruhigend ist. Sie weiß um die Möglichkeit, ihr Potenzial durch die Einnahme von Medikinet besser abzurufen. So lange sie das nicht möchte, muss das für uns erst recht in Ordnung sein. 

 

Zusätzlich zum Antidepressivum gibt es jetzt - unter Blutkontrolle - Vitamine und Omega3-Öl, Eisen und Biotin, weil die Mangelernährung zu Haarausfall führte. All das nimmt sie überwiegend selbständig ein, weil sie den Nutzen für sich erkennt. Und so muss es sein. 

 

Konzentrieren wir uns also auf ihren eigenen Weg, den sie hoffentlich finden wird. Wir wissen, dass die beste Medizin am Anfang des Jahres zwei Lehrerinnen waren, die sie nicht aufgegeben haben. Wenn ich mir jetzt etwas wünschen dürfte, dann wären das mehr LehrerInnen dieser Sorte und FreundInnen, denen Lenas absolut neidfreie und ehrliche Art wichtiger ist, als dass sie immer pünktlich und strukturiert wäre. 

 

Leider macht das ADS Lena einsam, weil sie nicht mehr nur das Gefühl hat, irgendwie anders zu sein, sondern weil sie es tatsächlich ist. Die allerbeste Medizin wäre aus meiner Sicht eine wertschätzende und akzeptierende Freundesgruppe, in der sie sich öffnen könnte. Niemand würde von einer Gruppe 16jähriger erwarten, dass sie sich wirklich damit auseinandersetzen. Es würde schon reichen, wenn sich niemand über ADS, das Ritzen, Depressionen und Angststörungen lustig machen, ihr "lustige" TicToks zu diesen Themen zusenden oder gar Fotos von geritzten Körperteilen aus dem Internet zeigen würde. Für mich abwegig und unbegreiflich, dass Lena genau das erlebt hat.

 

Richtige Freunde wären für sie wohl wirklich die allerbeste Medizin, und ich hoffe, dass sie ganz bald irgendwo ankommt und um ihrer Selbst willen gemocht und mit ihren Schwächen akzeptiert wird. 

 

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