Die Sache mit der Offenheit

Jeder in der Familie geht unterschiedlich mit der Diagnose um - einer der Gründe für einen anonymen Blog ist die größtmögliche Wahrung von Privatsphäre  für meine Tochter und der Wunsch, die Seele der Geschwister möglichst lange zu schützen. 

 

Mit einer Diabetes, einem Beinbruch, einer Krebserkrankung ist alles ganz klar: da kann man drüber sprechen. Da muss man drüber sprechen! 

 

Als Lena ihre Diagnose bekam, war ich vor den Kopf gestoßen: wie geht man denn um mit einer Erkrankung, bei der es tatsächlich nachweislich im Gehirn eine andere Struktur gibt als bei anderen Menschen? Kann man denn eigentlich von einer Krankheit sprechen? Ist es sowas wie eine chronische Sache? Wächst sich das aus? Wird es wieder besser? Kann man es heilen? Ist es eine psychische Erkrankung? Ist meine Tochter denn "richtig im Kopf"? Wird sie ein ganz normales Leben führen können? Werden sich Freunde abwenden, wenn sie davon erfahren? Werden gar Mütter ihren Kindern von einer Freundschaft mit meiner Tochter abraten? 

 

Während sie vor der Diagnose einfach etwas verplant war, keine Struktur fand, keine Ordnung schaffen konnte, hat das alles jetzt einen Namen, der auch sehr beängstigende Fragen aufwirft. 

 

Die Diagnose macht einige Dinge etwas leichter für mich. Es ist etwas, was ihr in die Wiege gelegt wurde. Wir sind nicht Schuld an der Sache. Wir haben keine Fehler gemacht. Obwohl - doch - aber dazu später mal. Alles in allem ist das für mich so ein bisschen eine Angelegenheit, die ich auch mit Worten wie mit spitzen Fingern anfasse. Ich, die eigentlich im Leben gerne zupackt, winde mich um das ADS herum, als ob ich mir die Hände nicht schmutzig machen möchte. Ich informiere mich, ich piekse in Erinnerungen, ich ordne ein, ich erkläre meine Tochter wie der Blinde die Farbe. Tatsache ist, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, wie sich das anfühlt, aber mir selbst und mittlerweile wenigen anderen sage, wie ich es mir durch ihre Erzählungen vorstelle.

 

Während mein Mann entschieden hat, einfach gar nicht darüber zu sprechen, hilft mir der Austausch mit einigen wenigen Menschen sehr. Leider lehrte mich die jüngere Vergangenheit, dass das auch Schattenseiten hat. 

 

Meine Tochter hat in ihrem Umfeld ihrer ganz engen Freundinnen-Gruppe davon erzählt. Ganz kurz vor den Ferien in einem Satz und mit der Hoffnung verbunden, dass diese ihr Geständnis in den Ferien vergessen mögen. Trotzdem hatte sie das Bedürfnis, sich zu erklären und zu öffnen und hoffte wohl insgeheim auf ein bisschen Verständnis und darauf, dass die eine oder andere von 4 Mädchen sich mit der Thematik auseinander setzen möge. Die damals beste Freundin, die heute nun gar keine Freundin mehr ist, wusste auch vor der Diagnose davon, wie schlecht es Lena ging und dass sie sich selbst verletzte. Ich bin sicher, dass es nicht immer einfach ist, Lena in der Freundesgruppe zu haben. Aber ich bin auch sicher, dass all diese Jugendlichen ihre Probleme haben und ihre Eigenheiten, die in Familien und Freundesgruppen eben dazu führen dass nicht immer alles reibungslos und einfach läuft. 

 

Ich entschied mich, die Mütter der Freundinnen anzurufen, da es wahrscheinlich war, dass es zu Hause Gespräche darüber geben würde. So nahm ich meinen Mut zusammen und rief die 4 Mütter an, die ich schon lange kenne. In der Gegenwart zweier dieser Mütter fühle ich mich seit Jahren zeitweise schlecht. Unterschwellig habe ich immer das Gefühl gehabt, diese Mütter würden ihre eigenen Töchter in den Himmel heben und hätten so ihre Meinung über meine Lena, die ich nie in den Himmel gehoben habe, deren Schwächen ich thematisieren konnte und kann, die Fehler macht, mit denen ich offen umgehe. Vielleicht vollkommen unbegründet nahm ich wahr, Lena sei nicht gut genug für diese Töchter. 

 

Meine ehrliche Lena hat mir nicht nur ihre eigenen Geschichten erzählt, sondern in der Vergangenheit auch hin und wieder die Geschichten der Freundinnen - im Gegensatz zu denen, die ihren Müttern ausschließlich die Verfehlungen der Freundinnen berichten, ist mein Bild wohl recht komplett. So kommt es, dass ich vielleicht mehr Dinge weiß als die anderen Mütter und sie auch anders werte. Ich kenne die lange Kiss-List der anständigen Greta und ich kenne einige Namen der von Marie gebrochenen Jungs-Herzen. Ich finde das sogar vollkommen normal. Genau so normal, wie meine verrückte Lena, die bislang eine sehr überschaubare Kiss-List hat und die noch kaum gebrochene Herzen hinterließ. Vielleicht sogar gar keines, außer ihrem eigenen, die dafür aber leider die Kombination aus Alkohol und dem Antidepressivum bereits 2 x unterschätzte und von der anständigen Greta gerettet wurde - nicht ohne ein Augenrollen.

 

Ich werte das nicht - all diese Mädchen werden ihren Weg finden und jede nimmt hier und da eine andere Abzweigung. Soweit ich weiß, hat keines dieser Mädchen sich mit der ADS-Thematik auseinandergesetzt. Auch das halte ich für vollkommen normal. Und obwohl ich mich über ein paar Verhaltensweisen ärgere, habe ich all diese Mädchen in mein Herz geschlossen. 

 

Im Frühsommer auf einer Party kam das Gespräch in einer Gruppe darauf, wie "krank" Leute sein müssen, die sich selbst verletzen. Lena war gelähmt und Marie lachte mit der Gruppe. Es gab keinen Impuls, Lena aus der Situation zu retten. Es wäre einfach für Marie gewesen, Lena zu bitten, mal eben mit ihr zur Toilette zu gehen.

 

Einer von Maries Verehrern mit gebrochenem Herzen schickte dieser sogar Fotos (aus dem Internet) mit geritzten Körperteilen, um ihr zu zeigen, wie verletzt und traurig er wäre. Marie fühlte sich geschmeichelt...und zeigte Lena unbedarft den gesamten Chatverlauf inklusive der Fotos.

 

Heute ist Lena sicherer denn je, dass ein fester Freund ihr noch lange vorenthalten bleiben wird. ADS/ADHS und Selbstverletzung sind in den Klassenzimmern die am meisten thematisierten und lächerlich gemachten Erkrankungen. Bekommt einer eine schlechte Arbeit zurück, hat einer Liebeskummer, ärgert sich einer, droht er im Scherz damit, sich zu ritzen. Ist einer laut und zappelig, hat er doch sicher ADHS und hört nicht selten abfällig: "Du bist so ein ADHS-Kind!".

 

Sich zu öffnen, macht sie noch verletzlicher - so hat Lena sich entschieden, sich niemandem zu öffnen und so auch niemanden dazu zu verleiten, um einen Platz in ihrem Herzen zu kämpfen.

 

Die Mütter auf jeden Fall reagierten überrascht, ein bisschen neugierig, verständnisvoll und auch betroffen. Allen schickte ich ein paar Informationen, und bei allen spürte ich die Erleichterung, dass "sowas" nicht die eigene Tochter betrifft. Das finde ich vollkommen verständlich. Das wäre mir auch so gegangen. Eine sagte mir, meine Tochter würde der Gruppe auch einiges abverlangen und mit dem Wissen um das ADS sei es vielleicht einfacher für die Mädchen, das einzuschätzen. Vielleicht ist das so. 

 

Mit ein bisschen Abstand frage ich mich allerdings, ob die Mutter das Gleiche zu mir gesagt hätte, wenn eine Erkrankung dazu geführt hätte, dass Lena plötzlich im Rollstuhl säße. 

 

Ich sprach nur mit sehr wenigen Vertrauten darüber und immer unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Für mich war das eine Erleichterung, denn ich merkte, dass ich sonst einsam werden würde. Ich brauche den Austausch. Ich brauche auch das Verständnis. Es gab plötzlich so viele Termine mit Lena. Schon im Jahr davor gab es so viele Sorgen um Lena, dass ich mich teilweise wochenlang nicht bei Freunden meldete, auch nicht bei meinen Schwestern. Da das der fließende Übergang aus der Corona-Zeit war, fiel das vermutlich längere Zeit gar nicht auf. Aber ich merkte, dass ich das Schweigen nicht aufrecht erhalten könnte, ohne wichtige Menschen zu verlieren. Also begann ich, sehr ausgewählten Menschen davon zu erzählen.

 

Die Patentante meiner Tochter - selbst Ärztin - habe ich allein deshalb informiert, weil sie gemeinsam in den Urlaub fuhren und diese aus meiner Sicht Bescheid wissen musste. Auch, weil Lena ihre Medikamente regelmäßig einnimmt, was ja ggf. Fragen aufwerfen könnte. Ich habe erzählt, wie es zur Diagnose kam und wie es Lena damals ging. Ich verschwieg Details der Selbstverletzung, der Hochbegabung, der Angststörung auch deshalb, weil Lena das so wollte. Ich sagte auch, dass mein Mann darüber nicht reden wolle und dass ich sie um Stillschweigen bäte. Sie sprach kurz danach meinen Mann darauf an, nutze Details aus unserem vertraulichen Gespräch und bedeutete ihm unmissverständlich, dass sie der Meinung sei, ich würde die Erkrankung unserer Tochter nun wirklich überbewerten und steigere mich hinein.

 

Allein die Tatsache, dass ich das Schweigegelübde meines Mannes nicht mitgetragen hatte und die Freundin informiert hatte, führte zu einem mächtigen Streit. Die Reaktion der Freundin gab ihm Recht, dass man darüber nicht sprechen sollte. Das verlorene Vertrauen, das meine Freundin mir bescherte, wird nicht durch die tollen Reaktionen anderer Menschen aufgefangen. Ich lebe jetzt mit der Angst, dass auch andere "Eingeweihte" sich nicht an meine Bitte halten und mit dem Gefühl, dass der Kampf, den ich seit etwa 2 Jahren um und für mein Kind führe, nicht ernst genommen wird, dass auch andere Menschen denken könnten, ich steigere mich da in etwas hinein. 

 

Tatsache ist aber, dass Schweigen eben nicht immer geht, nicht immer hilft und einen oft einsam macht. 

 

Ich sprach mit dem Koordinator, der die Einteilung der Wahlkurse vornimmt, um Lena unterjährig aus dem Kurs heraus zu bekommen, in dem der Lehrer gefühlt viel Druck aufbaute. Sie konnte zu Hause alles und vor dem Lehrer nichts mehr. Viele Wochen wurde sie vor dem Unterrichtstag krank und konnte nicht zur Schule gehen. Um etwas für Lena zu erreichen, musste ich wenigstens teilweise offen sein - und ich schaffte es, sie aus dem Kurs zu befreien.

 

Ich sprach mit dem Trainier, da Lena wochenlang nicht zum Training gehen konnte und von ihren Mannschaftskameradinnen deshalb bereits böse Sprüche  kassierte. Ich kündigte an, dass sie im Höchstfall sporadisch kommen könne und dass ich von den Trainern erwarte, dass dann keiner ihre Anwesenheit mit einem blöden Kommentar versehen würde - und ich schaffte es, dass die Trainer für Ruhe sorgten und wenigstens verhinderten, dass die anderen Mädchen für ihre Sprüche vom Trainer noch Applaus bekamen. 

 

Ich sprach mit dem Klavierlehrer, dass wir zumindest zeitweise die Unterrichtsstunde nur zum Vergnügen und ohne jeden Druck stattfinden lassen wollten, denn die Stunde am Klavier war regelmäßig wie eine Therapiestunde für Lena. Der Druck, den das Üben zu Hause am Klavier erzeugte, das die ganze Familie immer und überall im Haus hörte, war für sie nicht auszuhalten. Wir erfüllten ihr den Wunsch eines elektrischen Klaviers, an dem sie nun mit Kopfhörern spielen kann, ohne dass jemand etwas hört. 

 

Ich sprach also mit Menschen, mit denen ich sprechen musste, um Druck aus Lenas Leben zu nehmen. Und ich sprach mit Menschen, bei denen das Gespräch etwas Druck aus meinem Leben nahm und nimmt. Überwiegend erhielt ich Verständnis und Interesse von der Gegenseite. Lenas Angst vor Stigmatisierung ist viel größer als meine - und ich denke, dass diese leider nicht unbegründet ist. Wie in der Sesamstraße merkt sie schon immer: Eins von diesen Dingen passt nicht zu den anderen. Und nur weil sie jetzt weiß, warum es nicht passt, passt es ja nicht besser.  

 

Ich habe mich entschieden, einen Mittelweg zu gehen, der mich auf dem Rande des Vulkans balancieren lässt. Auf dem sicheren Weg des Schweigens könnte ich Lena in einigen Fällen nämlich nicht helfen. Mit größerer Offenheit möchte sie es nicht versuchen, von meinem Mann mal ganz abgesehen. Aber wenn ich nicht reden kann und mich nicht mit lieben Menschen austauschen kann, werde ich über kurz oder lang selbst nicht mehr können. Ich hoffe sehr, dass ich nicht als hysterische Mutter wahr genommen werde, aber nichts hat mich auf die Sorge um meine Kinder vorbereitet, die mich Nacht für Nacht nicht schlafen lässt. Nichts hat mich je so aus der Bahn geworfen, wie die Angst, die Kinder einfach nicht mehr halten zu können. So lange ich lebe, werde ich alles geben, damit sie stark sein werden und tapfer. Und so muss ich nun an meinem eigenen Mut arbeiten, damit dieser über meine Angst hinaus wächst, denn

 

"Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass etwas anderes wichtiger ist als Angst. Die Tapferen leben vielleicht nicht ewig, aber die Vorsichtigen leben überhaupt nicht."

 

Wenn du diesen Blog liest und mich persönlich kennst, kannst du dir sicher sein, dass ich dir vertraue und dass ich hoffe, dass du mein Vertrauen nicht missbrauchst. Dann wünsche ich mir, dass du - solltest du auch noch Lena kennen - herauslesen kannst, dass es sich lohnt, sie ins Herz zu schließen. Im besten Fall: sie weiterhin im Herzen zu behalten, denn du wirst niemanden finden, der gerechter und loyaler ist als sie und der Geheimnisse so sehr für sich behalten kann. Sie wird ohne Frage ein ganz normales Leben führen können - daran glaube ich fest.

 

Hier kommst du direkt zum vorherigen Artikel: Die Sache mit den Medikamenten

 

Hier kommst du zur Blog-Übersicht.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0