Die Sache mit den Ängsten

Erste Ängste begannen schon, als Lena klein war. Wann es eine Angststörung wurde, kann ich gar nicht sagen. Aber als es soweit war, gab es keinen Zweifel, dass diese Ängste "nicht normal" waren. 

 

Als ältestes Kind  - so könnte man denken - muss man immer mutig sein und alles in die Hand nehmen. Bei uns hat diese Rolle aber früh die jüngere Schwester übernommen.

 

Am Anfang war es lustig, wenn es an der Tür klingelte und Lena ihre kleine Schwester mit dorthin nahm, um sie dann im richtigen Moment wie ein kleines Schutzschild vor sich zu schieben. Rückblickend frage ich mich, ob ich da schon hätte aufhorchen müssen. Aber so ein Verhalten ist unter Geschwistern wiederum ganz normal.

 

Ich bin auch davon überzeugt, dass Besonderheiten bei einem erstgeborenen Kind vielfach nicht so schnell auffallen. Es fehlt schlicht ein Vergleich. 

 

Auffällig war früh eine ganz besonders ausgeprägte Angst vor den großen menschengefüllten Puppen, die bspw. in Freizeitparks durch die Gegend wandern, um sich mit den Besuchern fotografieren zu lassen. Dass diese nie sprechen, ist vermutlich in der Ausbildung zum Walker die Lektion Nummer 1, die Lena aber immer ganz besonders große Probleme bereitete. Es gibt im Familienalbum kein einziges Foto, auf dem Lena neben einer dieser Figuren steht. Entweder wahrte sie gebührenden Abstand oder schob ihre Schwester schnell dazwischen. Diese Angst trägt Lena bis heute mit sich, und als wir vor einigen Wochen in einem Einkaufszentrum auf Benjamin Blümchen trafen, konnte sie keinen Schritt weiter gehen, bis dieser endlich außer Sichtweite war. 

 

Kann man im Leben Begegnungen mit diesen Figuren normalerweise vermeiden, gibt es eben auch Dinge, bei denen wachsende Ängste zu echten Problemen führen. Die zunehmende Angst vor Spritzen zum Beispiel. Lenas Ängste wurden mit jeder Spritze stärker. Zunächst haben wir das gar nicht ernst genommen. Es gab ein Emla-Pflaster gegen den Pieks, dann sollte es schon gehen. Aber es ging immer schlechter, bis es bei einer standardmäßigen Impfung eben gar nicht mehr ging. Wir mussten sie schließlich (noch vor der Diagnose) mit 3 Erwachsenen festhalten im Wissen darum, dass dann die nächste Impfung erst im Alter von Mitte 20 dran wäre. Und es hätte auch klappen können, wenn nicht Corona gekommen wäre und außerdem die Einnahme von Medikamenten nicht zu notwendigen Blutentnahmen führen würde... Aber dass diese Ängste generell ein echtes Problem waren, war mir lange nicht klar.

 

Die erste Blutentnahme nach der Diagnose wollten wir mit Beruhigungsmitteln ermöglichen - aber wie bei einem Tiger auf der Flucht wirken diese Mittel bei Lena unter Panik nicht. Wir haben es mit einem vernünftigen Zeitfenster vorher verabreicht, aber weder die Zeit noch der immer länger werdende Spaziergang führten zu einer Wirkung des Medikaments, mit dem man einen Elefanten zum Einschlafen hätte bringen können. Es gelang der Ärztin doch, mit einer großen Portion Geduld, viel Zeit und ein paar Tricks, an das nötige Blut zu kommen. Immer noch unter Adrenalin saß Lena auf dem Heimweg wie ein gehetztes Tier im Auto, legte sich zu Hause auf das Sofa und schlief anschließend 20 Stunden. Mittlerweile haben wir einen Weg gefunden, der für alle Beteiligten stressfrei ist: noch im Halbschlaf gebe ich ihr eine größere Dosis Beruhigungsmittel als Schmelztablette unter die Zunge. Die Ärztin kommt eine halbe Stunde später zum Hausbesuch und nimmt dem dann fest schlafenden Kind Blut ab. Ein Schulbesuch ist an diesen Tagen nicht mehr möglich. Aber Lena denkt, dass sie die nächste Blutentnahme vielleicht schaffen kann, wenn sie liegt und die Ärztin einfach rein kommt und ohne viel "Gerede" ihre Arbeit verrichtet. Lena stellt sich dieser Angst. 

 

Als man wieder mit einer Maske und mit einer begrenzten Personenanzahl in Geschäfte gehen konnte, wünschte Lena sich einen bestimmten Pullover von H und M, den ich online bestellen sollte. Ich hatte an dem Nachmittag Zeit und schlug Lena vor, einfach dorthin zu fahren, um den Pulli zu kaufen. Ihr Zögern in dem Moment wischte ich mit einer damals noch unwissenden Handbewegung beiseite. Sie folgte brav und wenig euphorisch, wir betraten nach der Einlasskontrolle mit Maske das Geschäft. Lena steuerte auf die Pullover zu, sah den gewünschten Pulli nicht und forderte, sofort wieder zu gehen. Sie hielt es nicht aus in den Räumen mit den (wenigen) Menschen, in der Enge und sagte, es seien viel zu viele Menschen dort. Eine Anprobe in einer Umziehkabine wäre in dem Moment undenkbar gewesen. Ich sah erstmals unabhängig von Spritzen die Panik in ihren Augen. Also raus aus dem Geschäft, raus aus dem Umfeld ins rettende Auto. Mit viel Geduld und Übung ist shoppen mittlerweile wieder möglich. Es fällt ihrer Schwester und mir schwer, die Panik nachzuempfinden, aber wir akzeptieren jetzt jeden Wunsch, Geschäfte sofort zu verlassen. Wir machen Pausen und trauen uns dann wieder hinein. Ich kenne meinen Platz vor der Umziehkabine, den ich keinesfalls verlassen darf, ohne das vorher anzukündigen bzw. mir ihr "ok" dafür einzuholen. Und auch die Schwester fragt nicht mehr nach dem WARUM, wenn wir wieder einmal fluchtartig aus Geschäften stürzen, ohne etwas zu kaufen, auch wenn etwas Lena gut gefiel. Wir haben uns daran gewöhnt - und wir sehen, dass es Schritt für Schritt wieder besser wird. Wir haben vor einiger Zeit mit Unterbrechungen 5 Geschäfte nacheinander "geschafft" - in 3en sogar mit Anprobe! Danach ist Lena so müde, als hätte sie einen Marathon hinter sich. 

 

So reihen sich Erfolge und Misserfolge an Tricks und kleine Lügen, die Lena ihrem Umfeld auftischt, um die Angst vor auftretenden Panikattacken zu überspielen. 

 

Sie kann nicht eine Rolltreppe nutzen, es dürfen nicht zu viele Menschen da sein, ein Fahrstuhl ist eigentlich zu eng, es darf sie niemand sehen, den sie kennt, sie kann nicht eine Verkäuferin um Unterstützung fragen usw. 

 

Darüber hinaus hat sie Angst vor Dunkelheit, vor dem Alleinsein, davor, im Mittelpunkt zu stehen, vor schulischen Hürden, vor Prüfungen, davor, für sich einzustehen, vor Entscheidungen, vor dem Geliebtwerden, vor dem Verlassenwerden, vor dem Neinsagen, vor dem Versagen, vor Enge, vor Höhe und vor Umarmungen. Sie hat in der Schule Angst vor den Pausen, vor dem Suchen von Freundinnen auf dem Hof, vor dem Alleinsein in den Pausen, vor dem Gefühl, beobachtet zu werden. Sie würde am liebsten unsichtbar in einer Ecke sitzen. Die Schule mit der Struktur und den klaren Aufträgen ist für Lena eigentlich ein gutes Umfeld, aber die Pausen machen ihr das Leben dort schwer, weil ihr Gehirn dafür nicht gemacht ist. Zusätzlich zur den 1.000 Gedanken in ihrem Kopf gesellen sich dann die Pausengeräusche zu den Ängsten. Für ihr "neurodiverses" Gehirn (normal: "neurotypisch") ist das täglich mehrfach ein Overload. 

 

Die Liste der Ängste ist noch viel länger und stellt uns alle vor große Herausforderungen.  

 

Schon öfter haben Mitmenschen ihre Grenzen überschritten, aber nur selten schafft sie es, für sich einzustehen. So gut Lena in der Schule im Diskutieren ist, so schlecht ist sie darin, für sich selbst das Wort zu ergreifen, weil sie Angst hat. So hat sie zum Beispiel gegen ihren Willen an einer Wasserpfeife gezogen, weil einer der Anwesenden einfach ihr Kinn nahm und ihr das Mundstück in den Mund steckte, obwohl sie mehrfach "nein" gesagt hatte. Nicht das Rauchen der Wasserpfeife macht mich wütend - der übergriffige Junge, der sich herausnahm, Lena dazu zu zwingen, muss sich vor mir in Acht nehmen!

 

Nach diesem Ereignis habe ich eindringlich mit ihr gesprochen - Lena muss lernen, sich zu wehren und laut zu werden, da offensichtlich ein ängstliches und leises "nein" nicht in allen Fällen ausreicht und es nicht immer so ungefährlich sein könnte wie eine Wasserpfeife und nicht so einfach ist, wie aus einem Geschäft zu rennen oder eine Rolltreppe zu umgehen! Ich kann bei einem Einkaufsbummel unglaublich geduldig sein, denn da geht es um gar nichts. Aber meine Angst, dass ihr etwas passieren könnte, weil sie nicht laut genug ist und sich nicht wehrt, schnürt mir die Kehle zu.

 

Selbst wenn ihr die Angst lebenslang bleibt - sie muss schnellstmöglich lernen, so zu handeln, als hätte sie keine, denn ich merke, dass ich nicht immer auf sie aufpassen kann. Es gibt nämlich für das Leben keinen morgendlichen Trick vor dem Aufwachen und im schlimmsten Fall weder eine Vorwarnung noch einen Probealarm. 

 

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