Die Sache mit der Ghostwriterin

Oft antwortet Lena nicht oder nur sehr verspätet auf Nachrichten. Das ist für die Freunde schwer zu verstehen. Auch meine Nachrichten gehören oft zu der rot angezeigten Zahl am WhatsApp-Symbol. Bis dann ganz plötzlich Bewegung hinein kommt - warum, das habe ich lange nicht verstanden...

 

Die roten Zahlen an den kleinen Symbolen auf Lenas Handy sind immer da. Nur selten wird keine Zahl angezeigt. Ein stiller Vorwurf, wie viele Menschen auf Antworten warten. Wer regelmäßig mit ihr kommunizieren kann, sollte sich glücklich schätzen. Aber es weiß ja niemand, dass das so ist. Und auch ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt und versuche immer mal wieder, ihr Fragen zu stellen und warte dann vergebens auf eine Antwort. 

 

Das Bild zu diesem Artikel zeigt, dass ich Lena am Samstagabend gefragt hatte, ob wir diesen Film sehen wollen. Wir wollten, und wir hatten ihn längst gesehen, als die Antwort kam. Allerdings kam die Antwort nicht von Lena. 

 

Es ist schon eine Weile her, dass ich heraus gefunden habe, wie Lena mit Nachrichten umgeht. Zunächst gar nicht. Das Medium setzt sie unter Druck. Ein schönes Wort in dem Zusammenhang lautet "Kommunikationsdruck" - vermutlich hat unter anderem dieser dazu geführt, dass mittlerweile viele Freundschaften mit Mädchen zerbrochen sind. Die Kommunikation in WhatsApp-Gruppen, in denen oft eine Nachricht die nächste jagt und in denen man aufgefordert wird, seine Meinung zum Kauf einer Klamotte, zum Aussehen eines Jungen oder zum Ort des nächsten Treffens abzugeben, ist für Lena zu schnell und zu konfus. Das würde erfordern, dass Lena Entscheidungen treffen, priorisieren und dadurch in ihrem Kommunikationsdschungel für Ordnung sorgen könnte  - aber da in ihrem Gehirn schlicht der Dirigent fehlt, spielt das Orchester wild durcheinander und erlaubt jedem Instrument eine eigene Melodie. 

 

Auch ein schneller Dank für ein Geschenk zum Beispiel ist schwierig. Sie weiß, dass das sich "so gehört", aber sie schiebt es lange vor sich her, formuliert im Kopf einen Dank, wälzt die ungeschriebenen Worte im Kopf, vergisst es wieder, bis es zu spät ist. 

 

Lena hat die Stelle des Dirigenten irgendwann "outgesourct", als das Orchester nicht aufhörte, sie durcheinander zu bringen. Leider arbeitet dieser jedoch nur in Teilzeit und ist eine Dirigentin: ihre kleine Schwester. 

 

Wie es dazu kam, kann ich wirklich nicht sagen, aber eines Abends saßen wir zusammen, als ein junger Mann, dessen Namen ich im Bild gelöscht habe und den ich jetzt Luis nenne, nach einem Treffen fragte. Ich war verwundert, dass Lena die Nachricht las und dann das Handy ohne Umschweife an ihre Schwester gab. Diese seufzte verzückt und rief laut aus, dass sie eindeutig im "Team Luis" sei, da dieser die Hobbys von Lena teile und auch ansonsten perfekt zu passen schien - bis auf die Tatsache, dass er einfach zu weit weg wohne. Ich denke sogar, dass Luis dafür eine Lösung gefunden hätte, da das Interesse groß schien, was er bewiesen hatte, als er mutig in einem Freizeitpark nach Lenas Telefonnummer fragte, nachdem sich in der Wildwasserbahn die Blicke der beiden nicht mehr trennen wollten.

 

Lenas Möglichkeiten, auf seine Nachrichten zu antworten, waren limitiert durch die Bereitwilligkeit, mit der die schwer pubertierende Schwester Antworten verfasste. An dem Abend jedenfalls hat sie ihre Sache sehr gut gemacht, und wir alle waren ganz verliebt in Luis, der unwissend gleich von einer Kooperation 3er weiblicher Wesen der Familie seine Antworten bekam. 

 

Ich wunderte mich doch über die Normalität, die diese Szene mir zeigte und fragte nach. Eine Erklärung ließ nicht lange auf sich warten: schon seit geraumer Zeit setzen die Mädels sich in größeren Abständen zusammen - nämlich immer dann, wenn die rote Zahl bedrohlich groß zu werden scheint - und die 14jährige antwortet im Namen ihrer Schwester auf all das, was in der Zwischenzeit aufgelaufen ist. So musste aber Luis hin und wieder 2-3 Wochen auf eine Antwort warten, so dass der vorgeschlagene Zeitpunkt für ein Treffen dann schon vorbei war. Er hat lange durchgehalten, aber seine Nachrichten werden nun selten, und hätte ich ihm einen Rat geben können, wäre es der gewesen, sie eines Abends einfach abzuholen. 

 

Die ehemaligen Freundinnen hatten kein Verständnis für die unregelmäßig und dann schwungweise beantworteten Anfragen. Ich bin dazu über gegangen, Lena auf diesem Wege meistens nur noch Mitteilungen zu machen, die geringe Wichtigkeit haben. Ich hoffe, dass sie es bald schaffen wird, neuen Freundinnen von ihrem "Kommunikationsproblem" zu erzählen. Jungs scheinen insgesamt etwas toleranter, so dass der Kindergartenkumpel ihr bis heute die fehlenden Antworten nicht übel nimmt, und ihre neu entstehenden Freundschaften klappen insgesamt viel besser mit Jungs. 

 

Außerdem kann ich erkennen, dass sie immer dann, wenn es für sie emotional wirklich wichtig ist, auch antworten kann. Mit Faulheit hat das nichts zu tun - es ist dann einfach ein Instrument, das sich in ihrem Kopf in den Vordergrund spielen kann. Luis konnte das offensichtlich nicht. 

 

Auch wenn ich froh bin, dass ein Teil der Probleme durch den Einsatz der Schwester kleiner wird, trägt diese eine schwere Last. Als die Psychiaterin Lena fragte, ob es denn einen Menschen gäbe, dem sie sich anvertrauen könne und der umfänglich über alles Bescheid wisse, was ihr so schwer fiele und ob jemand sie unterstützen würde - ganz unabhängig von den Eltern - da habe ich kurz die Luft angehalten, weil ich fürchtete, dass sie sagen würde, dass sie außer uns niemanden hätte. Aber sie bejahte die Frage und sagte, dass ihre engste Vertraute wohl im Moment ihre kleine Schwester sei.

 

Erleichterung, dass sie sich nicht ganz alleine fühlt, mischte sich mit Rührung, dass die ungleichen und oft streitsüchtigen Schwestern sich so nahe sind und auch mit Besorgnis, dass die Last für die kleine Schwester zu groß sein könnte. Sie bleibt oft zu lange auf, um der großen Schwester zuzuhören, macht hin und wieder auch als Ghostwriterin die Hausaufgaben der Klasse 11 und warnt sie vor allzu unüberlegten Handlungen. Sind die beiden mal eine Nacht alleine zu Hause, ist es die Große, die nicht ohne die Kleine kann. Braucht die Große mal einen Menschen um sich herum, legt sie sich in das Bett der kleinen Schwester, um ihr nahe zu sein, während diese Hausaufgaben macht - nicht andersrum. Sie ist mit 14 Jahren gerade die Vernünftigere, die die große Schwester liebt, um die sich gefühlt seit etwa 1,5 Jahren alles in der Familie dreht und die zeitweise eine Menge Verantwortung und Sorge trägt. Ich hoffe, dass eine Zeit kommt, in der es mehr um sie gehen kann und in der sie nicht mehr so viel auf die große Schwester aufpassen muss. 

 

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