Die Sache mit dem Himmel

Noch in absoluter Unwissenheit trieb Lena mich manchmal in den Wahnsinn. Ich habe damals gerne gesagt, es gäbe nur drei Zustände für mich: ich möchte sie halten, ich möchte sie schütteln oder ich möchte sie umbringen. Aber da Lena sich selbst nicht halten kann und sich selbst auch nur bedingt schütteln kann, kam sie tatsächlich auf die schlechteste aller Ideen.

 

Für diesen Blog habe ich gedanklich lange gebraucht, macht er mich doch verletzlicher als je zuvor, und ich habe Angst, dass unter dem Schorf auf meiner Seele noch keine neue Haut gewachsen ist. 

 

Meine Erinnerungen an die Geschehnisse sind nicht ganz vollständig, meine Gedanken dazu sind dumpf, schmerzhaft und richten sich vorwurfsvoll gegen das Band zwischen Lena und mir, das trotz aller mütterlicher Vorahnungen so versagt hat.

 

Wie viele Fangnetze es gebraucht hätte, frage ich mich. Wann ich diesen wichtigen Punkt verpasst habe, den ich hätte greifen können. Aber so sehr ich nachdenke, so wenig bringt es mich zu dem einen Moment, der den Verlauf der Dinge hätte ändern können. Es ist, als würde er mir auch rückblickend immer wieder durch die Finger gleiten, wenn ich gerade zugreifen will. 

 

Aber ich muss es chronologisch erzählen, damit ich mich an eben jenem Faden entlang hangeln kann, den ich nun bestmöglich wieder zusammen knote. Ich hoffe, er reißt nicht wieder bei der ersten Belastung. 

 

Das letzte Jahr hatte einige sehr schöne Momente und tiefe Täler. So hatten wir einen wirklich unbeschwerten Sommer - aus meiner Sicht. Die Antidepressiva wirkten, es gab keinen schulischen Druck, Lena hatte einen Ferienjob, dem sie nicht jeden Tag nachgehen musste. Das Leben lief angenehm und leicht vor sich hin. Es machte mich nicht misstrauisch, es bereitete mich nicht vor.

 

Nach den Sommerferien begann für Lena die Oberstufe. Sie hatte sich für die Leistungskurse entschieden, die ihr am meisten liegen. Sie hatte nicht danach gewählt, wer noch dort sein würde. So fand sie sich in einer kleinen Gruppe mit fast nur Mädchen, die allesamt in ihren Freundesgruppen verankert waren und diese auch dabei hatten. Lenas alte Freundinnen hatten sich anders entschieden und hatten jeweils jemanden an ihrer Seite. Für Lena war der Anfang purer Stress. Sie kannte die anderen Mädchen nicht wirklich und hatte auch nicht das Gefühl, dass diese auf sie gewartet hätten. Sie hatte immer in unterschiedlichen Räumen Unterricht - so wie ihre alten Freundinnen auch. Ihre Probleme, sich auch in bekannten Umgebungen zu orientieren und ihre Ängste machten es ihr schwer, in den Pausen die alten Freundinnen überall zu suchen und zu finden, zumal sie fest davon überzeugt war, in der Gruppe eher eine untergeordnete Rolle zu spielen und sie nie das Gefühl hatte, die alten Freundinnen würden sie vermissen. Das hatten sie ja aus ihrer Sicht schon früher nicht getan. So versuchte sie, mal in den Pausen die alten Freundinnen zu finden, um den neuen Mitschülerinnen nicht auf die Nerven zu fallen, und mal versuchte sie, dort Zugang zu finden, weil sie ja 2 Jahre mit ihnen verbringen würde. 

 

Nach einer Woche Schule mit neuen LehrerInnen, Räumen, Mitschülerinnen, Fächern usw., bekam Lena Corona. Sie war nicht ansatzweise vernetzt, weder die LehrerInnen noch die neuen MitschülerInnen vermissten sie nach dieser kurzen Zeit. Sie blieb 10 Tage zu Hause, bis es ihr wieder besser ging. In dieser Zeit feierte die anständige Greta ihren Geburtstag, und Lena konnte nicht teilnehmen. Dann hatte sie eine Woche Schule, bis sie für ein Projekt aus dem vorigen Schuljahr als einzige ihrer Gruppe wieder eine Woche fehlte. Danach begann schon die anstrengende Klausurenphase vor und nach den Herbstferien. Der Druck auf Lena stieg immens, und die Leichtigkeit des Sommers war schon lange verflogen. Sie wollte nach wie vor keine Medikamente, die ihr bei der Konzentration helfen könnten, obwohl diese ihr am Anfang des Jahres sehr geholfen hatten. In jeder Stunde dachte sie an die nachfolgenden anstrengenden Pausen mit den vielen Menschen, mit der Suche nach den alten Freundinnen oder dem Versuch des Anschlusses an die neuen Mädchen. Eine Arbeit nach der anderen nahm ihr die Luft und leider auch die Illusion, dass es jetzt besser ginge. Vor den Herbstferien gab es die mündlichen Noten - in einigen Fällen hatten die Lehrer ihre Abwesenheiten gar nicht bemerkt, bemängelten lediglich, dass sie sich zwar in sehr vielen Stunden gut beteilige, aber vom Sommer bis zum Herbst teilweise sehr still gewesen sei. 

 

In den Herbstferien atmeten wir auf. Es waren schöne Tage, die wieder locker vor sich hin liefen. Wir erinnerten nicht an bevorstehende Klausuren, denn das hätte die schöne Leichtigkeit zerstört, die Lena so gut tat.

 

Am letzen Tag der Herbstferien baten die alten Freundinnen Lena zu einem Gespräch. Sie wusste, was auf sie zukommen würde, hatte sie doch schon in den letzten Wochen bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Es gab in den Gruppenchats, an denen Lena sich fast nie beteiligte, kaum noch Kommunikation. Sie ahnte längst, dass es neue Chat-Gruppen ohne sie gab. Mutig holte sie sich ab, was nicht zu ändern war. Nach einer halben Stunde rief sie mich an, ich solle sie abholen. Sie saß dort und bat mich, sie nichts zu fragen, sie wolle einfach nur ein bißchen mit mir durch die Gegend fahren und weinen. So klein und verletzt und schmal saß sie neben mir und weinte tonlos ihre Tränen um die Freundschaft. Ich hoffte, sie würde meine Tränen nicht sehen. 

 

Später erfuhr ich, dass die Mädchen ihr die Freundschaft gekündigt hatten. Die Vorwürfe lauteten, sie beteilige sich nicht an den Chats, sie vernachlässige die Mädchen, sie zöge andere Menschen vor, sie hätte nie Zeit, sie wolle in ihren Fächern mit den beliebtesten Mädchen des ganzen Jahrgangs einmal sehen, wie hoch Lena in der "Hierarchie" des Jahrgangs aufsteigen könne. Der letzte Vorwurf wog schwer, war sie doch noch lange nicht angekommen und aufgehoben, hatte keine neuen Freundschaften und sah ihre alten Freundinnen in den anderen Fächern immer paarweise auftreten, während sie einsamer war denn je. Das war der Abend an dem mir klar wurde, dass sie nun niemanden mehr hatte. 

 

Die anständige Greta hatte einige Zeit davor zu Lena gesagt, dass diese keinesfalls ihren allerersten großen Schwarm anbaggern dürfe, das mache man unter Freundinnen nicht, und dann sei die Freundschaft beendet. Unabhängig davon, dass Lena das gar nicht vor hatte, zeichnete sich seit einiger Zeit andersherum ab, dass Greta großes Interesse an dem Jungen hatte, den ich damals als Auslöser von Lenas Krise empfunden hatte, der nun seit dem Sommer wieder Interesse an Lena zu haben schien und dem Greta direkt vor meinen Augen an Lenas Geburtstag mit einem kecken Blick ihre Telefonnummer gab. Lena hatte den Jungen längst abgehakt - aber es beschlich sie in der Zeit nach dem Bruch mit den Freundinnen der Gedanke, dass Gretas Interesse an dem Jungen nicht vereinbar sein könnte mit der Idee, dass man "sowas" als Freundin nicht macht und dass es vielleicht zur Erleichterung des eigenen Gewissens besser sei, nicht mehr mit Lena befreundet zu sein und dass Lena deshalb die Gruppe verlassen musste. Greta ist nun mit dem Jungen zusammen, hat Lena gehört. Lena sprach wie in alten Zeiten Sprachnachrichten oder TikToks für ihre ehemals beste Freundin Marie und schickte diese nie ab. Lenas Einsamkeit in dieser Zeit war im Raum greifbar.

 

Lena hatte sich dafür eingesetzt, ihre Tabletten selbst zu verwalten und selbst in die Schachtel zu sortieren. Ich hatte dabei kein gutes Gefühl, aber die Ärztin meinte, es sei ein Schritt zu mehr Eigenverantwortung. Sie frage Lena, ob diese an einen Missbrauch dächte. Ihre Antwort, dass sie das eigentlich nicht täte, reichte der Ärztin in dem Moment, und Lena schleppte danach alle Tabletten-Vorräte in ihr Zimmer. Vom Eisen-Medikament über die Vitamine, die Kur für die Haare, die Omega3-Kapseln, die ungenutzte ADS-Medikation und zu guter Letzt die Antidepressiva.  Es klappte eher schlecht als recht. Ich hatte immer einen kleinen Blick auf die Schachtel, die nie im Voraus für eine Woche gefüllt war. Die ganzen Medikamente lagen in einem kleinen Fach in Lenas Zimmer. Mir machte das sehr viel Stress, denn die absolut regelmäßige Einnahme des Antidepressivas ist von großer Bedeutung.

 

Lena schloss sich vorsichtig einer Gruppe an, in der auch ihr alter Kindergarten-Kumpel zu finden ist. Aus ihrer Sicht ist jeder für sich "ein bisschen komisch". Aber sie fühlt sich wohl und selbst ein bisschen eigenartig. Ich finde alle authentisch und nett, und ich glaube, dass sie dort gut aufgehoben ist, bzw. gut aufgehoben sein wird. Keiner von denen ist ein Blender oder einer von den Coolen, und ich glaube, dass das so sehr gut ist. Damals wog es mich in trügerischer Sicherheit.

 

An einem Sonntagabend lag Lena mal wieder im Bett, ihr Zimmer war das reinste Chaos, die Schulsachen lagen herum, die Hausaufgaben waren unerledigt, die Noten der Klausuren bis dahin waren unterirdisch. Ich verlor die Nerven. Es ist nicht leicht, sich immer wieder zu sagen, das Kind könne nicht anders. Es ist nicht leicht, ständig das Chaos hinter ihr aufzuräumen. Es ist nicht leicht, Mutter und Freundin zu sein. Es ist nicht leicht, das Kind immer wieder zu erklären. Es ist eben auch für eine Mutter nicht leicht. Auch dann nicht, wenn sie alle Kraft zusammen nimmt, weil die Ärztin gesagt hat, dass diese letzten 2 Jahre Schule die anstrengendsten Jahre ihres Lebens sein werden. Danach - so die Aussicht - könne Lena etwas machen, was ihren Neigungen entspräche und daran wachsen, sich erholen und gesunden. 

 

Auf meinen Wutausbruch der Verzweiflung reagierte Lena mit einem Lächeln. Meine Worte perlten an ihr ab. Sie lag fast entrückt und sehr müde in ihrem Bett, und meine Wut machte mich blind für die leeren Tabletten-Packungen auf ihrem Nachttisch.

 

Wir Eltern saßen später im Wohnzimmer, die kleine Schwester setzte sich dazu und sagte erstmal lange nichts, während sie auf ihr Handy sah. Nach einer Weile fragte sie stockend, was wohl passiere, würde man eine hohe Dosis, genauer gesagt die 8fache Dosis, Antidepressiva einnehmen. Mein Mann - Mediziner - eilte in Lenas Zimmer und holte das schläfrige Kind zu uns. Ich verstand erstmal gar nichts - hatte sie bestimmt in ihrer Verpeiltheit aus Versehen genommen. Eine nach der andern selbstvergessen aus dem Blister gedrückt und geschluckt, um dann aus der Versenkung aufzutauchen und den Fehler zu bemerken. So muss das gewesen sein. 

 

Er ließ sie Dinge vorlesen und Finger zählen, er ließ sie auf einer Linie balancieren und maß den Blutdruck immer wieder. Ich lag nachts neben ihr und weckte sie alle Stunde. Ich fühlte ihren Puls und lauschte ihrem Atem. Mein Mann wusste, dass die Dosis zu gering für ein Koma war, zumal ihr Körper den Wirkstoff kannte. Morgens rief ich die Kinderärztin und die Psychiaterin an. 

 

Erst als die Kinderärztin die Worte "Suizidversuch" und "Überdosis" in den Mund nahm, wurde mir klar, dass es das vielleicht nicht in letzter Instanz gewesen war, aber doch so gewertet werden würde. Und wenn wir Lena in eine Klink gebracht hätten, wäre der nächste Weg der in die geschlossene Psychiatrie gewesen. Die Kinderärztin nahm Blut ab, um den Spiegel des Medikaments im Blut zu bestimmen und um zu prüfen, ob die Organe einen Schaden erlitten hätten. Sie schrieb Lena 2 Wochen krank. 

 

Die Psychiaterin sprach Dienstagabend mit Lena, als sie wenigstens wieder einigermaßen wach war. Die beiden Tage davor hatte sie eigentlich nur geschlafen. Das "Warum" und die Folgen davon, das Trauma, das die kleine Schwester davon getragen hat und die tiefe Liebe zwischen den beiden Schwestern werde ich später einmal beschreiben. Auch die nachträgliche Angst - sie hätte viel mehr Tabletten nehmen können. 

 

In der ersten Woche gab es Halluzinationen, die sie aufgrund der erst so hohen Dosis und dann dem "Entzug" erlebte. Das erste Wochenende danach, an dem ihre Schwester Geburtstag hatte und sie im totalen Gefühlschaos alle Grenzen mutwillig überschritt, war eines der härtesten Wochenenden meines Lebens. Ihr absoluter Wille, uns dazu zu bringen, sie dafür zu hassen, brachte mich emotional an meine Grenzen. 

 

Nach einer Woche und weiteren Blutentnahmen wollte Lena wieder zur Schule.  Da ihr Handy genau am Dienstagabend wegen eines älteren Feuchtigkeitsschadens kaputt gegangen war, konnte sie auch die ganze Woche niemand erreichen. Später sah Lena, dass ein paar wenige Leute sie gefragt hatten, wo sie sei. Sogar die ehemalig beste Freundin rang sich zu einer kurzen Nachricht durch. Niemand hakte nach, als keine Antwort kam. 

 

Am Montag der Folgewoche ging Lena trotz Krankschreibung zur Schule und schrieb ohne jede Vorbereitung eine Mathearbeit, die später zum ehrlichen Bedauern der Lehrerin mit nur einem Punkt bewertet werden musste. Aber Lena wollte sich beweisen, dass sie geplant versagen kann. Sie hatte nun seit den Sommerferien fast 4 Wochen Schule verpasst. 

 

Danach folgten viele Gespräche mit der Psychiaterin - auch unter Beteiligung der kleinen Schwester, viele Gespräche mit LehrerInnen, der Antrag für einen Nachteilsausgleich, den wir nie haben wollten, zu dem uns aber die Schule im Hinblick auf das Abitur riet. 

 

Es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass Lena mit voller Absicht gehandelt hat. Gleichzeitig geht das Leben weiter. Hier wird gelacht und geweint, und manchmal vergesse ich sogar, was mir so viel Angst macht. Vor der Diagnose habe ich öfter gesagt, es gäbe in Bezug auf Lena nur die Wünsche, sie zu halten, sie zu schütteln oder sie umzubringen. Jetzt ist meine Aufgabe kleiner geworden: ich muss sie wirklich nur noch halten. Und ich glaube. ich kann das schaffen, weil sie so wertvoll ist und so ein toller Mensch mit unglaublich viel Empathie und weisem Wissen, dass ich darauf vertrauen möchte, dass sie nach der Schule fliegen wird. Aber nicht in den Himmel! 

 

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