Die Sache mit dem Lichtblick

Wenn ich auf die letzten 2 Jahre zurück blicke, haben wir viel erlebt. Wir haben viel gelernt und - ich kann das nur von mir mit Sicherheit sagen - ich habe so viel geweint, wie nie zuvor. Meistens alleine, manchmal mit den besonders netten Menschen, die in unerwarteten Momenten wirklich wissen wollten, wie es mir geht. 

 

Ich habe in den schlimmen Phasen versucht, möglichst wenige Bekannte zufällig zu treffen. Bei einigen wollte ich nicht, dass sie überhaupt wussten, wie schlecht es mir ging und fürchtete deren unwissende Gedanken - die sieht aber schlecht / müde / traurig aus. Bei den Netten wusste ich, könnte ich die Fassade nicht aufrecht erhalten und wäre bei der ersten Frage in Tränen ausgebrochen. 

 

Darüber hinaus wabert nach wie vor in mir die Angst, man könne mich für hysterisch, überbehütend, überbewertend halten, mich und Lenas Erkrankung nicht ernst nehmen. Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst die möglichen Folgen von unentdecktem ADS früher nicht ansatzweise kannte. 

 

Ich würde sagen, dass es im letzen Jahr einen Moment gab, an dem ich sicher war, dass es jetzt nicht schlimmer werden dürfe, weil das "Schlimmer" eben ein Leben ohne Lena gewesen wäre. Lena hatte und hat viele Begleiterkrankungen, die ein undiagnostiziertes ADS mit sich bringen kann: Essstörungen, Depressionen, Selbstverletzung, Angststörungen, Schlafstörungen usw.

 

Sie selbst sieht die Essstörung als Auslöser für die Selbstverletzung, die Depression als Folge der Selbstverletzung usw. ADS sei für sie keine Krankheit und daher auch nicht verantwortlich für all diese Dinge, sagt sie.

 

Ich denke, dass es sich um eine Mischung aus Erkrankung und Charakterzügen handelt. Während die Psychiaterin sagt, mit dem ADS seien auch sehr viele positive Eigenschaften verbunden, hadert Lena nach wie vor mit ihrer Diagnose. Ich kenne ihre Vorzüge, aber ich kann und will diese nicht dem ADS zuschreiben, weil ich die bewunderns- und liebenswerten Eigenheiten nicht dem ADS "verdanken" und schon gar nicht Lena auf eben diese Gehirnentwicklungsstörung reduzieren möchte. 

 

Leider muss ich Fehler rückblickend auch bei uns Eltern sehen. Wir haben die vielen Zeichen nicht erkannt und ihr deshalb unwissend unsere Hilfe verwehrt. Ich schreibe parallel gerade auf, was alles auf das ADS hindeutete und was wir in unserer Blindheit nicht gesehen haben. Ich ahnte doch schon längst, dass sie in einigen Situationen nicht anders konnte, ohne dafür eine Erklärung zu haben. Etwas, was so lange unentdeckt ist, hat aber weitreichende Folgen. Ich wiederhole mich, wenn ich sage: Wenn man weiß, warum etwas nicht passt, passt es ja nicht besser. Aber ich möchte heute ergänzen, dass es mit dem Wissen leichter wird, es zu akzeptieren und nach Alternativen zu suchen. 

 

Lenas Aussage in der Grundschule, sie sei "anders als die anderen" habe ich nie ernst genommen. Bestimmte Ängste mit einer Handbewegung beiseite gewischt, ihre fehlende Struktur mit Faulheit erklärt usw. Wir Eltern wussten immer, dass sie schlau ist - und wir haben aus Versehen viel Druck aufgebaut, damit sich ihr gefühltes Leistungsvermögen auch in guten Noten niederschlägt. Tatsache ist, dass das normale Leben für sie sehr anstrengend ist, viel anstrengender als für uns.

 

Heute kann ich aber von Lichtblicken reden - und ich möchte das auch tun. Seit Lenas übermäßiger Einnahme der Antidepressiva hat sich einiges getan. Auch deshalb, weil sie keine andere Wahl hatte. Nie hatte sie Freundschaften zu mehreren Kreisen aufgebaut. Als ihre Freundesgruppe weg fiel, war sie gezwungen, sich anderen Menschen zu nähern oder anderen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich ihr zu nähern. Das musste und muss sie lernen. Heute sieht sie Fehler auch bei sich, und sie vermisst ihre alten Freundinnen oft. Jedoch sind wir gemeinsam zu der Erkenntnis gekommen, dass man etwas vermissen darf, was man nicht zurück haben möchte. Die alte Geborgenheit würde sie nicht wiederfinden. Dennoch hat sie noch bis vor einer Woche jede Nacht von den Mädchen geträumt, mit denen sie sich noch vor relativ kurzer Zeit vorstellen konnte, die nächsten Jahrzehnte befreundet zu sein. 

 

Wie schon einmal geschrieben, hat Lena Zugang zu einer Gruppe gefunden, in der sie sich ganz wohl fühlt. Sie hat bislang nicht das Gefühl, dass man sie vermisst, wenn sie nicht dabei ist, aber sie fühlt sich wohl in der Clique, die überwiegend aus Jungs besteht, ohne dass sie diesen schöne Augen machen würde. In der Regel freut sie sich für die Jungs, wenn diese ihr anvertrauen, für welches Mädchen sie gerade schwärmen und gibt gerne Tipps für das Vorantreiben des Kennenlernens. 

 

Lenas größter Halt ist ihre Schwester, mit der sie viele Abende zusammen auf einem der Betten in einem der Mädchen-Zimmer verbringt. Eigentlich fast jeden Abend, an dem die kleinere Schwester nichts vor hat und noch am Schreibtisch sitzt, um Hausaufgaben zu machen, leistet Lena ihr Gesellschaft. Oft höre ich die Mädchen zusammen kichern. Lena hat nach wie vor relativ selten unter der Woche Verabredungen, aber das unverbindliche und vertraute Zusammensein mit der Schwester gibt ihr sehr viel Halt. Manchmal ist es schwer, dass ich die Position der Freundin innerfamilär abtreten musste. Aber ich beobachte die Liebe zwischen den beiden Mädchen warmherzig. Ich weiß, dass sie einen Vertrag aufgesetzt haben, der Lena daran hindert, sich selbst Verletzungen zuzufügen oder auf schlimmere Ideen zu kommen. Diese Unterschrift, die Lena ihrer Schwester geleistet hat, hat für Lena mehr Gewicht als jede Abmachung mit der Psychiaterin.

 

Diese hat mich ermutigt, Lena auch meine Wut mitzuteilen. Deshalb habe ich ihr meine Gefühle geschildert. Ich bin so wütend, dass sie uns einfach verlassen und damit sich selbst retten wollte, ohne an die Folgen für die ganze Familie zu denken! Ich bin so wütend auf all die, deren unbedachte Äußerungen, Verhaltensweisen, Be- und Verurteilungen dazu führten, dass Lena dachte, im Himmel sei es besser, auch wenn ich fest daran glaube, dass niemand das beabsichtigt hatte. Ich bin so wütend, dass das ADS so wenig bekannt ist und so weitreichende Folgen hat, wenn man es lange Zeit nicht erkennt. 

 

Wir haben lange gesprochen, und Lena hat mich gebeten, das Thema jetzt ruhen zu lassen. Sie möchte nach vorne sehen, sie möchte die Schule hinter sich bringen, sie möchte etwas finden, was ihren Neigungen entspricht. Sie möchte Menschen finden, die zu ihr passen und bei denen sie nicht das altbekannte Gefühl beschleicht, nicht "richtig" zu sein. Sie wird aber noch lange brauchen, bis sie wieder Vertrauen aufbauen kann und noch viel länger, bis sie sich fallen lassen kann und so sein darf, wie sie ist. Bestimmt wird es auch nicht ganz einfach, geduldige Menschen zu finden, die ihren Wert erahnen und dran bleiben. 

 

Aber wir haben schon so viel geschafft! Wir können wieder shoppen gehen und in Cafés oder Restaurants sitzen. Sie hat gelernt, ihre Bedürfnisse zu erkennen und diesen zu folgen. Überfordern sie die vielen Reize, verlässt sie den Ort, wenn es möglich ist. Geht es nicht, spielt sie 10 Minuten ein Spiel am Handy, das ihre ganze Aufmerksamkeit bindet und sie abtauchen lässt. Das bleibt anstrengend und ist nicht immer möglich, aber die wichtigste und wertvollste Erkenntnis ist in diesen Momenten, dass es gerade zu viel ist. 

 

Sie verletzt sich nicht mehr selbst, und die kleinen Narben verblassen. Sie traut sich, manchmal besondere Dinge anzuziehen und freut sich, dass die Reaktionen oft positiv sind. 

 

Lena hat erkannt, dass sie dazu beigetragen hat, dass die Freundschaft zu ihrer alten Freundesgruppe zerbrochen ist. Aber sie hat auch erkannt, dass es immer zwei Seiten gibt und dass sie wütend ist, dass sie statt zu einem klärenden Gespräch zu einem Rauswurf eingeladen wurde. Daher erlaubt sie sich, sauer zu sein und ist erstmals richtig unfreundlich zur anständigen Greta, deren neuer Freund sehr schnell auf einer Party knutschend mit einem anderen Mädchen gesehen wurde. Lena ist der neidfreieste Mensch, den ich kenne, aber als sie das hörte, hat sie laut und schadenfroh gelacht und von Karma geredet - eine Reaktion, die ich bislang bei ihr nicht kannte. Das ist so befreiend, auch wenn sie sich gegen meinen Rat immer noch auf der Snapmap ansieht, wenn die anderen Mädchen sich treffen. Sie sagte, sie würde alles dafür geben, alle neuen Freundschaften sofort abbrechen und keine Party dieser Welt vermissen, wenn sie noch Bestandteil dieser Gruppe sein könnte. Aber sie weiß, dass es kein "Zurück" gibt und macht gerne beißende Witze über ihr Leben ohne Freunde. 

 

Nach all dem Durcheinander, der Gefühlsachterbahn und den vielen Tälern habe ich jetzt wirklich das Gefühl, dass wir alle nach vorne sehen können.

 

Plötzlich ist Lena besser in der Lage, pünktlich fertig zu werden, weil sie eine Taktik entwickelt hat, mithilfe von Podcasts eine Zeiteinteilung vorzunehmen (ich begreife nicht, wie sie das macht).

Ihr Zimmer ist etwas weniger chaotisch, auch wenn es geheime Müllecken gibt, aber sie hat ein System, das manchmal leider zu Wäschebergen führt, aber irgendwie funktioniert.

Sie gibt sich selbst die Zeit, sich auszuruhen und nutzt ihr Potenzial in den Schulstunden für die Verbesserung ihrer mündlichen Noten, da Klausuren und Hausaufgaben sie weiterhin vor große Schwierigkeiten stellen - das Zeugnis war wider Erwarten ganz ok, und einige herausragende Fächer werden ihr den Schnitt nach oben ziehen.

Neuerdings gibt sie relativ offen ihre Schwäche zu, zeitnah auf Nachrichten zu antworten oder zurückzurufen.

Sie kann auf Feiern gut einschätzen, wie viel Alkohol sich mit ihren Medikamenten verträgt und wann ein guter Moment ist, die Party zu verlassen.

Auch hat sie verstanden, dass sie vielleicht im Moment nicht "schul-schlau" ist, dass das aber nichts mit "schlau im Leben" zu tun hat. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die gleichaltrigen Jugendlichen merken, dass mittelmäßige Noten rein gar nichts über die Intelligenz eines Menschen aussagen - aber sie hat den Unterschied hart gelernt und wird ihr ganzes Leben in der Lage sein, hinter die Fassade von Menschen zu sehen, die auf den ersten Blick so oder so scheinen. Ihr Vermögen, andere Menschen zu analysieren und selbstkritisch die eigenen Handlungen zu hinterfragen, wird ihr viele Türen öffnen. 

 

Um nun auf den ersten Absatz zurück zu kommen: ich kann seit kurzem wieder Menschen zufällig begegnen und nicht in Tränen ausbrechen, wenn diese mich fragen, wie es mir oder den Kindern geht. Alles verändert sich in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit. Die Kinder werden größer, und alle lernen, mit ihren Schwächen umzugehen und ihre Stärken einzusetzen. Vielleicht hat Lena es etwas schwerer als viele andere. Aber vielleicht ist es auch nicht leichter oder schwerer, sondern nur "anders".

 

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