Sie Sache mit den Tränen

Lena hat auch als Baby nicht viel geweint. Allerdings hat sie später oft gezittert vor Wut und sich vollkommen verkrampft, wenn sie sauer war. So beängstigend das manchmal war, so sehr hat es als Ventil für Gefühle funktioniert und gab ihr die Möglichkeit, die Gefühle heraus zu lassen.

 

Als Lena ein Baby war, musste ich sie ständig in der Bauchtrage ganz eng bei mir haben. Ich habe sie monatelang getragen, weil sie im Kinderwagen einfach keine Ruhe fand und nicht schlafen konnte. Es kam hinzu, dass sie wegen eines angeborenen Hüft-Schadens in den ersten Monaten ihres Lebens eine sogenannte Orthese tragen musste, die ihre Beine weit auseinander spreizte. Das Tragen vor dem Bauch hat die Haltung unterstützt und ich bilde mir ein, dass die Position der Beine so für Lena etwas besser zu ertragen war. 

 

Wenn ich über die körperlichen Merkmale nachdenke, die uns hätten auffallen sollen, dann sind das rückblickend wirklich einige Dinge, die aber nicht zeitgleich auftraten, so dass wir einfach nie darüber nachgedacht haben. Darüber hinaus waren das durchaus liebenswerte Marotten, die uns manches Mal zum Schmunzeln brachten. So konnte Lena noch nie von einer Begebenheit erzählen, ohne dabei aufzustehen, und für die Wiedergabe der Geschehnisse nutzte sie Hände und Füße wild gestikulierend. Unsere manches Mal genervte Bitte, sie solle doch zum Erzählen mal sitzen bleiben, beantwortete sie stets damit, dass sie das nicht anders könne. 

Lange war sie als Kind beim Leichtathletik, und sie hat großes Talent für den Sport. Gerade die mittleren Strecken lagen ihr - allerdings sah sie dabei immer aus wie ein kleiner Albatros, da sie ihre verkrampft gestreckten Arme ein bisschen vom Körper weg hielt und so eine unbeholfene Rotation der Arme erzeugte. Nicht selten haben wir Eltern ihr gesagt, sie solle die Arme endlich mal anders halten. Unter uns haben wir uns bei den Läufen manchmal zugezwinkert und vermutet, dass sie gleich abheben würde. 

 

Wie schwer ihr aber die Konzentration auf mehrere Dinge gleichzeitig fiel, wurde mir erst viel später klar, als ich über einen ihrer schnellsten Läufe nachdachte. Sie war in einem Wettkampf über 800 m und musste dafür auf einer Bahn 4 Runden laufen. Sie lag weit vorne seit Runde 1 - und als sie die 3. Runde vollendet hatte und die Glocke hörte, die die letzte Runde einläutete, beendete sie ihren Lauf, weil sie dachte, sie wäre fertig. Das Publikum war entsetzt und feuerte sie laut schreiend an. Als sie begriff, dass sie eine weitere Runde laufen musste, waren alle anderen bereits an ihr vorbei gezogen und sie kam als Letzte ins Ziel. Lena lief danach nie wieder 800 m. 

 

Als Lena in der Grundschule Tics entwickelte, die sich in Räuspern und Augenrollen äußerten, wurde vom Kinderarzt ein EEG vorgeschlagen, damit wir sicher sein konnten, dass Lena keinen Gehirntumor hatte. Die Zuckungen in ihrem Gesicht waren manchmal nur schwer zu ertragen. Da sie diese aber mit großer Anstrengung auch unterdrücken konnte, musste ich sie in ihren schwächsten Momenten filmen, um dem Kinderarzt zeigen zu können, was ich meinte. Anstatt sie in den Arm zu nehmen und ihr Ruhe zu geben, zückte ich mein Handy, um das aufzunehmen, was ihr sehr unangenehm war.

 

Die Untersuchungen brachten kein Ergebnis - außer der Aussage aller beteiligten Ärzte, dass sich das mit der Zeit geben würde. Um sich etwas besser abgrenzen zu können, verschrieb der Augenarzt Lena eine Brille. Was wir bereits jahrelang von Kleidungsstücken kannten, dass es möglichst immer die gleichen sein mussten, begann dann mit den Brillen. Lena trug ein und dasselbe Brillenmodell sehr lange. Eine kaputte Brille führte nie zu der freudigen Gewissheit einer neuen Brille, sondern zu ständiger Angst, ob es genau diese Brille noch gab.

 

Ganz ADS-typisch muss ich dazu sagen, dass die Brillen häufig kaputt waren. So wie ständig Dinge herunter fielen, ständig Dinge verloren gingen. Sollte Lena mal einen Freund haben, täte dieser gut daran, ihr nicht so teuren Schmuck zu schenken, stattdessen die Schmuckstücke mehrfach zu kaufen, um im Falle des Falles einen Verlust nicht so schwer nehmen zu müssen.

 

Es muss einen Ort geben, an dem sich viele Gegenstände befinden, die mal Lena gehörten: Jacken, Mützen, Handschuhe, Schals, Radiergummis, Geodreiecke, aber leider auch ein ganzes Paar fast neuer AirPods, das mutmaßlich nach dem Herausnehmen nicht in die Packung, sondern in Gedanken zusammen mit Verpackungen und Essensresten in die McDonald's Tüte gesteckt und vermutlich von mir in den Müll geworfen wurde. Den einzigen teuren Ring, den sie besitzt, vergaß Lena beim ersten Tagen in der Tennishalle. Wir fanden ihn zum Glück nur eine Stunde nach dem Training noch am selben Ort - aber seitdem trägt sie ihn nicht mehr, aus Angst, ihn nochmal zu verlieren. 

 

Lena umfährt die Dinge mit Ecken mit ihren Fingern. Dabei folgt sie einem bestimmten Muster. Beispielhaft sei gesagt. alle Berührungen müssen links und rechts gleichmäßig sein, was auch für Berührungen ihres Körpers gilt. Berührt sie also jemand am linken Arm, muss sie mit ihrer Hand die gleiche Stelle des rechten Arms berühren, um eine Gleichmäßigkeit herzustellen. Sie dreht ständig eine Haarsträhne um ihren Finger - und ihre wunderschönen langen Finger sind leider immer kaputt, weil sie ihre Nagelhaut mit den anderen Fingernägeln kaputt "knibbelt". 

 

Sie erlaubt sich das, weil es für andere Menschen kaum sichtbar ist. Sie wirkt nicht wie "so eine". Der starke Druck in ihrem Inneren ist vermutlich nur für mich sichtbar, weil ihr ganzer Körper eine Angespanntheit ausstrahlt. Als wären überall eine Menge Seile befestigt, die immer gleichzeitig in alle Richtungen ziehen. Der Körper gerade, die Gesichtszüge beherrscht. Aber manchmal kommt jemand mit einem Skalpell und schneidet eines der Seile durch, das dann zirrend auseinander fliegt und einen kurzen Blick auf eine andere Lena zulässt.

 

Lena ist unglaublich verletzlich und noch viel mehr verletzt. In den letzten Tagen habe ich sie 3 x weinen sehen, weil sie endlich in der Lage ist, ihre Gefühle zu deuten und zuzulassen. Als Lena ihre schwärzesten Stunden hatte, war sie davon überzeugt, es nicht besser zu verdienen. Sie verdiente die Selbstverletzungen, sie verdiente den Verlust der Freundinnen und sie verdiente, dass keiner sie nach ihrer Überdosis in der Schule vermisste. 

 

Langsam geht sie mit ihrer Diagnose etwas offener um, da ja diese 4 Mädchen davon wissen. Ganz richtig sagte Lena, dass eigentlich alle ruhig das wissen können, was diese Menschen wissen, mit denen sie nichts mehr zu tun hat. 

 

Trotzdem ist der Weg sicher noch lang. Lena fühlt sich sehr schnell unter Druck gesetzt. Bitte ich sie um etwas, sagt sie IMMER "Ja". Aber Tatsache ist, dass ihr momentan für fast alles der Antrieb fehlt. Es fällt ihr schwer, ihr Zimmer aufzuräumen. Es fällt ihr schwer, sich auf Klausuren vorzubereiten. Es fällt ihr schwer, von mir vorformulierte Mails abzusenden. Es fällt ihr schwer, das geführte Programm zu absolvieren für die theoretische Führerschein-Prüfung. Immer sagt sie, sie würde das machen "Ja". Ohne einen gewissen Zeitdruck kann sie all das nicht. Ihre schriftlichen Ergebnisse liegen im schlechteren, mittleren Bereich, weil sie zum Lernen auf jegliche Medikation verzichtet und sich dann entweder nicht vorbereitet oder sich bei der Vorbereitung nicht konzentrieren kann. Dafür sind die Ergebnisse immer noch überraschend gut! Während der Klausuren helfen ihr die Medikamente, die Konzentration zu halten. So kann sie dann abrufen, was sie im Unterricht behalten konnte. Sie bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten, aber sie quält sich im wahrsten Sinne durch die Inhalte, die sie vollkommen belanglos findet und stellt weiterhin fest, dass gar nicht wenige Klassenkameraden nach wie vor denken, sie könnte nicht bis 3 zählen. Dabei ist sie in der Lage, jeden von ihnen auf den Punkt zu analysieren. Ihre Menschenkenntnis ist mittlerweile beachtlich - und ihr Bauchgefühl, wem sie vertrauen kann und wer ihr gut tut, wird besser. Nur die Sache mit dem "sich öffnen" bleibt schwierig. Ich fürchte, dass sie auf viele Menschen sehr abweisend wirkt. 

 

Dabei hat sie sich ihre absolute Ehrlichkeit bewahrt. Sie hält niemanden hin, der sich Hoffnung macht, sie spielt nicht mit den Gefühlen anderer Menschen. Sie ist klar und sorgt sich um die, bei denen sie einen zu hohen Alkohol- oder gar Drogenkonsum beobachtet und fragt sich, warum Eltern und/oder die Schule das nicht zu merken scheinen und warum es keine Hilfe gibt. Sie verabscheut Betrug - und als alle im Jahrgang von eben so einem Betrug wussten außer dem Mädchen, das betrogen wurde, hat sie es dem Mädchen gesagt. Sie geht gerne auf Partys, aber sie raucht nicht und trinkt wenig. Immer wieder erstaunt mich, dass jemand, der so viel Chaos anrichten kann, der immer zu spät kommt und der immer etwas verpeilt auf andere wirkt, so klar und analytisch denken kann. 

 

Es bleibt, dass sie anscheinend nicht wirklich kompatibel ist. Als jemand aus ihrer neuen Freundesgruppe sich herausnahm, alle Teilnehmer einer WhatsApp-Gruppe zu uns nach Hause einzuladen, weil Lena das im kleinen Kreis gesagt hatte, aber nicht die große Gruppe wollte, hat sie sofort in genau diese Gruppe reagiert, dass es gar kein Treffen gäbe, so lange nicht sie selbst die Einladungen ausspräche. Wenn sie denkt, dass sie ausgenutzt wird, zieht sie sich sofort zurück. 

 

Lena kann nur schwer Nähe zulassen, aber sie ist nicht gerne alleine. So langsam merkt sie aber, dass sie zuallererst mal sich selbst aus ganzem Herzen akzeptieren muss und auf auf sich und ihre Gefühle hören muss. Dafür ist sie die ersten Schritte gegangen. Ganz bald möchte sie ausprobieren, die Dosis des Antidepressivas zu verringern. Darauf freue ich mich so sehr, auch wenn eine vergessene Tablette aktuell schlimmste körperliche Mißempfindungen (so wie kleine metallische Schläge bei Berührungen) hervorruft. Sie wird das ganz langsam reduzieren müssen, denn ohne Entzug wird es bedauerlicherweise nicht gehen. 

 

Ihr Wesen, ihre Hypothek, ihre Intelligenz, ihre Emotionalität und Impulsivität, ihre Erkrankung und all die Begleiterkrankungen machen es ihr nicht gerade leicht, von anderen so angenommen zu werden, wie sie ist. Deshalb muss Lena unbedingt noch ein bisschen weinen, traurig und wütend sein, Gefühle zulassen und Gefühle zeigen. die zerbrochene Freundschaft betrauern und langsam neues Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen, die das verdienen. Vielleicht werden das nicht viele Menschen sein - aber es gibt sie. Da bin ich ganz sicher! 

 

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