Die Sache mit der Heilung

Wenn ich an dieser Stelle von Heilung spreche, dann meine ich nicht die Heilung vom ADS. Das ADS wird sie ihr Leben lang begleiten, aber wie wunderbar Lenas Seele in den letzten Monaten geheilt ist, zeigt umso mehr, wie wichtig es ist, eine Diagnose zu erhalten. 

 

Ich blicke zurück auf anstrengende Monate. Mit der Diagnose - das weiß ich heute - wurde nämlich erstmal gar nichts besser, sondern leider noch viel schlimmer. Rückblickend ist es aber auch so, dass die Zeit verschwimmt und die Zeiträume zwischen Ereignissen mir manchmal sehr lange und manchmal sehr kurz erscheinen. 

 

Insgesamt war das gesamte letzte Kalenderjahr von der Diagnose geprägt, die wir Anfang des Jahres fast zeitgleich mit Lenas ungewöhnlich schlechtem Halbjahreszeugnis erhielten. Anfang letzten Jahres? Es kommt mir vor, als wären es Lichtjahre. Aus dem Teenager der Klasse 10 ist eine junge Frau geworden, die jetzt in der Abschlussklasse auf ihr Abitur hin arbeitet. 

 

Nach der Diagnose begann die Auseinandersetzung mit den Defiziten, die diese mit sich bringt. Zu den großen Pluspunkten kommen wir erst seit kurzem. Dabei kannten wir die Defizite ja eigentlich - nur plötzlich schienen sie so unabänderlich und erklärten vieles. Nichtsdestotrotz war die Tatsache einer gefühlten Behinderung für Lena eine echte Last. Hinzu kam die Angst vor der Verurteilung, vor dem Unverständnis, vor den Lachern bei einer Offenbarung, vor dem Stigma, das gerade ADS vor sich her trägt.

 

Einem Menschen hatte Lena sich umfänglich anvertraut: ihrer damals besten Freundin, die aus heutiger Sicht vielleicht überfordert war. So hatte sie schon vor der Diagnose mit dem Wissen um Lenas Selbstverletzungen in Gegenwart anderer Jugendlicher mit diesen gemeinsam Witze über diejenigen gemacht, die sich selbst verletzten. So hat sie nach Lenas ADS-Diagnose und der Information über die Depression einfach gar nicht nachgefragt. So, als ob jemand wie Lena davon nicht betroffen sein könnte. Oder so, also ob es sie nicht interessierte. Oder so, als ob Lena sich damit wichtig tun wollte. Oder so, als ob das nicht in ihr schönes und leichtes Leben passte. Alles in allem war diese Reaktion für Lena lange prägend - hat sie doch angenommen, dass jeder zukünftig so reagieren würde. 

 

Heute möchte ich von der Heilung reden. Die Heilung bezieht sich natürlich nicht auf das ADS, sondern auf die Verletzungen der Seele. Mit dem neuen Wissen, der Unterstützung unserer Psychiaterin, viel Verständnis und Geduld wurde ab Herbst letzten Jahres - erst nach dem totalen Absturz - aus einem Samenkorn bis zum Jahresende eine kleine und zarte Pflanze, die noch bis zum Frühjahr im übertragenen Sinne eine Rankhilfe und einen Regenschutz brauchte. Seither entwickelt sie sich im Freigelände mehr als prächtig. Hin und wieder bin ich erstaunt, wie schnell eine Seele sich erholen kann! Ich wünsche mir, dass ich dazu beigetragen habe!

 

Es ist so viel passiert - und das zeigt, dass jemand mit ADS eine ganz tolle Entwicklung nehmen kann, wenn das Umfeld stimmt. Bestimmt sogar undiagnostiziert. Aber die Diagnose macht es etwas einfacher, mit den mit ADS einhergehenden Misserfolgen milde umzugehen und nicht jedes Mal die Augen zu verdrehen, wenn etwas schief geht. Ein Kind mit ADS erlebt so viel öfter Misserfolge und Unverständnis als ein Kind ohne ADS. Und ein Kind mit ADS fühlt sich zudem viel schneller missverstanden ("Ich höre was, was du nicht sagst.") , ist viel schneller verletzt und reagiert oftmals hoch emotional und impulsiv. Für ein Kind mit ADS braucht man viel Geduld. Ein Kind mit ADS ist sehr ungeduldig...

 

Lena hat neue Freunde gefunden. Mit fast allen Mädchen ihrer ehemaligen Freundesgruppe hat sie sich ausgesprochen und kann diesen wieder begegnen. Vor den drei Mädchen, die sich getraut haben, das Gespräch mit Lena zu suchen, habe ich große Hochachtung, denn ich bin sicher, dass das ein schwerer Gang war. Die anständige Greta - die im Herbst letzten Jahres Lena gesagt hatte, dass sie nicht mehr Bestandteil der Freundesgruppe wäre - hat im Februar diesen Jahres den Anfang gemacht. Ich glaube, Lena hat sie nicht vor der Wahrheit verschont. Mehr als ihre beste Freundin hatte Lena dieses Mädchen vermisst, das immer ein Gefühl für Lenas Ängste gehabt zu haben schien. Es war die, die in den Unterrichtsstunden Lenas Hände nahm, wenn ihre Fingerspitzen wieder einmal keine Ruhe fanden und die Nagelhäute bereits vollkommen kaputt geknibbelt waren. Es war die, die Lenas Bestellungen in der Mensa vornahm, wenn ihre Ängste das, wie so oft, nicht zuließen. Kurz vor den Sommerferien haben die beiden ruhigen Mädchen mit Lena gesprochen und versichert, dass Lenas Gefühl, niemand interessierte sich für sie, niemand vermisste sie, nicht gestimmt hatte. Scheinbar hatten sie aber wirklich nicht geahnt, wie tief Lena gefallen war, wie einsam sie war. Als ich die Mädchen bei Lenas Geburtstagsfeier in diesem Jahr wieder sah, habe ich mich sehr gefreut - und an den davor liegenden Geburtstag gedacht, an dem es noch "nur" die Diagnose gab und ansonsten alles oberflächlich in Ordnung schien. 

 

Man könnte annehmen, dass die ehemals beste Freundin Marie von Lenas tiefem Fall wusste, denn sie kannte die Vorgeschichte, die Diagnose ADS, die daraus resultierenden Diagnosen Depression und Angststörung, die Medikation - aber mit Marie gab es bis heute noch keine Aussprache. Ich frage mich auch, was das für eine Aussprache sein sollte. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Empathie von einem damals 15jährigen Mädchen zu erwarten gewesen wäre. Obwohl ich Marie schon länger kritisch gesehen und in vielen Situationen gedacht hatte, dass das Verhalten einer besten Freundin anders sein sollte als das von Marie, war ich von ihrer Härte überrascht. 

 

Lena sieht auch ihre eigenen Fehler ein und versucht, diese bei ihren neuen Freunden nicht zu wiederholen. Auch wenn sie sich manchmal die alte Vertrautheit zurück wünscht, ist sie nicht nachtragend. Lena hat getrauert, und sie war wütend. Sie wollte Marie verprügeln und träumte jede Nacht von ihr. Gestern sagte sie, sie versuche, nicht mehr so wütend, sondern dankbar zu sein, denn nur durch den Verlust aller Freundinnen sei sie heute dort, wo sie jetzt ist. 

 

Jetzt vor einem Jahr begann die härteste Zeit bis zum Jahresende. Es ist, als ob Lena das wie in einem Trauerprozess gerade noch einmal durchlebt. Aber es ist eine heilende Zeit, denn sie fühlt sich nicht mehr alleine und nicht mehr weniger wert als andere. Sie hat sehr viel über sich und andere gelernt und sie hat gelernt, wie wichtig es ist, sich zu öffnen. 

 

Lena hat sich getraut, ihrer neuen Freundin alles zu erzählen. Sie hat nichts ausgelassen. Nicht die Selbstverletzungen, nicht die Depressionen, nicht den Verlust aller Freundinnen, nicht die Medikamente, nicht die Einsamkeit, nicht das ADS, nicht die Übergriffigkeit des Jungen unter Alkoholeinfluss. Und es passierte etwas wunderbares: das Mädchen fragte nach. Wie es sich anfühlt, was das bedeutet, wie alles kam. Sie gestand: ohne jedes Wissen hatte sie Lena in ihrer schlimmsten Zeit zutiefst bewundert für die nach Außen gezeigte Unabhängigkeit. Lena ging in den Unterricht, Lena sprach mit niemandem, Lena nahm wortlos am Unterricht teil, Lena packte ihre Sachen und verließ den Raum. Lena tat das, weil sie niemanden hatte und in totaler Einsamkeit. Die heutige Freundin nahm sich, ohne Lena zu kennen, an Silvester vor, mehr wie Lena zu werden. 

 

Wie in einem Online-Game werden bei Lena gerade jede Woche neue Fähigkeiten freigeschaltet. Sie organisiert sich mehr und mehr selbst, sie vergisst den Hausschlüssel nicht mehr außen auf der Tür, sie steht rechtzeitig auf und fährt pünktlich zur Schule, sie trifft Verabredungen und sagt diese nicht kurzfristig ab, sie vergisst nicht mehr ständig etwas - und wenn doch, dann kümmert sie sich selbst darum, sie hat normale Noten mit ein paar künstlerischen Ausreißern nach oben. Standen wir letztes Jahr vor der Frage, ob sie mit dem mittleren Schulabschluss die Schule verlassen (und dann??) oder vielleicht ein Schuljahr wiederholen sollte, gibt es heute keine Zweifel daran, dass sie ihr Abitur fast mit Leichtigkeit schaffen wird. Sie merkt, dass sie für ihre Noten im mittleren Bereich kein bisschen gearbeitet hat und dass sie mit kaum einem Aufwand auch ein mittleres Abitur machen wird. Es gibt keine Zweifel mehr, dass Lena ihren Weg gehen wird.  

 

Hätte man mir im Herbst letzten Jahres - vor nichtmal einem Jahr - gesagt, dass alles gut werden würde, dass nichts nachbleiben würde von der Einsamkeit, der Unsicherheit, meiner ständigen Angst vor einem gelungenen Suizidversuch; hätte man mir gesagt, dass ein abgebrochener Fingernagel heute das schlimmste ist, was Lena passieren kann - ich hätte es nicht geglaubt! 

 

Meine eigenen Vorurteile hätten dazu geführt, dass ich wohl kaum angenommen hätte, dass jemand nach solchen Erfahrungen nach dieser kurzen Zeit nicht mehr psychisch instabil sein muss. Wie schön, dass das Leben mich eines besseren belehrt hat!  

 

Ich habe gelernt, was ich nicht für möglich gehalten habe: die jugendliche Seele kann so schnell heilen wie die aufgeschlagenen Knie der Kinder, die gerade laufen gelernt haben, wenn man tröstet und pustet, Pflaster bereit hält und die Hand zum Aufstehen reicht. Zwei kleine Narben an Lenas rechtem Oberschenkel erinnern mich daran, dass das alles wirklich passiert ist.

 

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