Die Sache mit dem Abitur

Ich glaube nicht, dass dies der letzte Artikel sein wird, denn unsere Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Mit ein bisschen Hoffnung, fängt sie sogar gerade erst an. 

 

Nach langem hatte Lena vor 2 Wochen wieder einen Termin mit der Psychiaterin. Als sie zu mir sagte, sie brauche DRINGEND einen Termin, habe ich mein Bestes gegeben, das auch zu realisieren.

 

Dennoch hatten wir leider einen Vorlauf von 2 Wochen. In diese Wartezeit fiel die Abiturvorbereitung, zwei Theateraufführungen mit Hauptrolle, die Motto-Tage in der Schule mit jedem Tag wechselnden Verkleidungen, Alkoholkonsum, wenig Schlaf und auch das Kennenlernen eines Jungen, der ihr offensichtlich sehr gut tun könnte. Ich fieberte dem Termin entgegen. 

 

Am ersten Tag ohne Schule habe ich gemerkt, wie sehr in mir die Geschehnisse nachhallen. Nach den anstrengenden letzten Schultagen schlief sie den ganzen Tag und kam nicht aus dem Bett. Sofort fühlte ich mich an die Zeit erinnert, in der sie sich immer weiter zurückgezogen hatte, schließlich nicht mehr aß und das Bett nicht mehr verließ. Einen Tag lang hatte ich furchtbare Angst. Einen Tag später ging sie zum Sport. Vier Tage später traf sie ihre Freundin - es kam mir vor wie eine Ewigkeit. 

 

Als der Termin kam, war er dann doch genau im richtigen Moment. Lena hatte viele Themen - als hätte sie gesammelt, hat sie alles vor der Psychiaterin ausgekippt, um es sich von der Seele zu reden. Diese kennt nun schon Lenas Umfeld, kennt die Familie, kennt die Freunde beim Namen, kennt die Ängste und Schwierigkeiten. Diese aufwühlende Zeit des Abiturs hat alle Gefühle nochmal verstärkt. 

 

Einmal mehr haben wir ihre verlorene Freundschaft mit Marie thematisiert - und danach endlich das Glas weggeworfen, auf das Marie vor langer Zeit "66 Gründe, warum du für immer meine beste Freundin sein wirst" weggeworfen. Wir haben über die neue beste Freundin gesprochen und über Lenas Ängste, die beendete Schulzeit würde ihr diese Freundin wieder nehmen. Wir sprachen über den Versuch, den Führerschein zu machen, der bereits 3. x an der theoretischen Prüfung scheiterte. Wir überlegten, was gegen die Ängste helfen könnte und fanden eine Idee für nach den schriftlichen Prüfungen. Die Psychiaterin nahm Lena den Druck, sich zu dieser Zeit produktiv fühlen zu müssen. Lena braucht mehr als andere jetzt eine Pause. 

 

Wir sind an dem Punkt, auf den Lena so lange gewartet hat, obwohl der Abschied von den gewohnten Abläufen ihr schwer fällt: die Schule ist nicht für sie gemacht. Sie mochte die Struktur, aber die Pausen mit den Geräuschen und den vielen Menschen sind für Lena gleichermaßen "Lust und Last". Sie musste sich mit Menschen auseinandersetzen und diese treffen, sich beobachtet und beurteilt fühlen, kommunizieren, sich öffnen, ohne etwas preiszugeben. Alles in allem hat sie das mit meisterhaftem schauspielerischen Talent hinter sich gebracht. 

 

Wir sprachen über den Jungen, der geduldig zu sein scheint und wenig Forderungen stellt. Lena weiß nicht, wo das hinführen könnte - und die Psychiaterin hat ihr versichert, dass das heute noch nicht klar sein kann und dass sie sich erlauben soll, Dinge auf sich zukommen zu lassen. Erstmals gibt es bei Lena die Überlegung, einer Sache Zeit zu geben und sie sich entwickeln zu lassen. Ich hoffe, dass sie erkennt, dass es sich lohnen könnte - und ich hoffe, dass er in der Zeit nicht die Geduld verliert.

 

Dazu gehört ein weiterer wichtiger Schritt: das Absetzen der Antidepressiva, das wir schon länger auf "nach dem Abitur" terminiert hatten. Bekannte Nebenwirkungen des Medikaments sind die "Verflachung der Gefühlstiefe" und die Schwierigkeiten mit körperlicher Nähe. Waren diese Nebenwirkungen bislang nicht wichtig, merkt Lena jetzt, wie abweichend ihr Bedürfnis nach Nähe von dem ihrer Freundinnen ist, die teilweise bereits längere und / oder wechselnde Beziehungen haben. Lena möchte das auch - und kann es unter der Wirkung des Medikaments nicht ansatzweise. 

 

Wir haben besprochen, dass Lena nach den schriftlichen Arbeiten die Dosis halbieren soll, weil das die nächst niedrigere Dosis ist. Lena ist ungeduldig und wollte mitten in den Prüfungen das Medikament von heute auf morgen weg lassen. Das wäre wegen der zu befürchtenden Entzugserscheinungen eine schlechte Idee - schon wenn Lena eine einzige Einnahme vergaß, hatte sie bei Berührungen das Gefühl metallischer Schläge auf der Haut und große innere Unruhe.

 

So habe ich mich nach intensiver Recherche hingesetzt und die Kapseln des Medikaments geöffnet, in denen sich 6 kleine Kügelchen befinden. Aus jeder Kapsel habe ich eine Kugel entfernt und die Kapseln wieder verschlossen. Die ersten 3 Tage vergingen ohne körperliche Absetzsymptome. Ängstlich habe ich sie beobachtet und tue das noch - wie wird sie sich verändern, wie wird sie ohne das Medikament zurecht kommen, was wird das mit ihr machen... gestern habe ich eine weitere Kugel aus den Kapseln entnommen, so dass wir bei der nächsten Reduzierung schon bei der halben Dosis wären - vor den schriftlichen Prüfungen. Wenn es sie 1 oder 2 Punkte im Abitur kosten sollte, wäre es mir völlig egal. Als wäre die ganze Zeit der unterdrückten Gefühle jetzt vorbei, merkt sie bereits jetzt das Ausmaß der Veränderung. Ihre Emotionen kehren mit Macht zurück - der Entzug schüttelt sie emotional und strengt sie wahnsinnig an. 

 

Es wird danach noch eine Weile dauern, bis der Wirkstoff aus dem Körper heraus ist und bis Lena dauerhaft wieder die ist, die ich innerhalb der letzten 4 Jahre manchmal vermisst habe. Ich hoffe, dass es ihr jetzt so gut geht und sie so stabil ist, dass sie es ohne die Medikamente aushalten kann, weil sie endlich gelernt hat, mit sich zu leben. 

 

Lena hat ihre erste Prüfung geschrieben und das allererste Mal ganz offen ihren Nachteilsausgleich in Anspruch genommen. Als der Lehrer verkündete, dass Lena als einzige dieser Prüfgruppe eine Stunde länger schreiben dürfe als alle anderen und auf Nachfrage nur sagte, das sei wegen ihres Nachteilsausgleiches, waren einige verwundert. In diesem Fach ging es ohne Medikamente, aber die nächsten 2 Arbeiten wird sie nur mit Ritalin überstehen können. Das werden harte Tage, da sie jetzt schon weiß, dass während des Tages-Restes nach dem Ende der Wirkung nichts mehr geht. So muss sie vor der nächsten Klausur für beide Fächer fertig vorbereitet sein. 

 

Bis heute war es ein weiter Weg, der aber auch gezeigt hat, wie heilbar eine Seele sein kann. Lena hat immer noch mehr Angst als andere - aber sie kann wieder shoppen und Rolltreppe fahren und im Fahrstuhl sein. Sie erträgt Spritzen und verletzt sich schon lange nicht mehr selbst. Sie hat ihre Essstörung überwunden und möchte keine Antidepressiva mehr nehmen. Sie beginnt, vorsichtig Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen, auch wenn sie immer noch scheu und unsicher ist. Sie ist hochemotional, und sie ist sehr empfindlich, wenn Menschen um sie herum zu viel Alkohol trinken oder Drogen konsumieren und sie beobachtet, dass diese einen Kontrollverlust erleiden. 

 

Ich möchte ADS nicht als psychische Erkrankung sehen und ich wünsche mir, das andere Menschen das auch nicht tun und kein vorschnelles Urteil fällen. Es wäre schön, wenn es diesbezüglich mehr Offenheit gäbe - auch wenn ich selbst vor 3 Jahren gar keine Ahnung hatte, wie weitreichend die Folgen eines (zu) spät diagnostizierten ADS sein können.

 

Meine Tochter darf sich nun nach der Schule darauf freuen, einen eigenen Weg zu gehen, der sie so interessiert, dass ihre Begabung endlich an die Oberfläche finden kann. Und es wäre zu schön, wenn sie Menschen findet, die mit ihr gehen! 

 

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Quelle: https://www.chemie.de/lexikon/Venlafaxin.html

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