Endlich ist die Zeit des Absetzens des Antidepressivas gekommen - besonders ich habe lange darauf hingefiebert und gleichzeitig große Angst davor gehabt. Die Erfahrungen im jetzigen Prozess zusammen mit der erneuten Beschäftigung mit Wirkungen, Nebenwirkungen und Absetzsymptomen zeigt mir eindrücklich, dass mein Misstrauen vor 2 Jahren mehr als angebracht war.
Rückblickend und von außen betrachtet, kann ich nicht mehr genau sagen, welche Wirkung Venlafaxin unmittelbar nach dem Behandlungsbeginn hatte. Es hieß ja auch, dass eine Wirkung frühestens nach 2 Wochen einsetzen würde. Es war ziemlich genau vor 2 Jahren, als Lena entschied, die Depression als Symptom des ADS medikamentös behandeln zu wollen. Sie mochte sich damals selbst so wenig und wollte endlich einmal mit ihren Emotionen in ruhigerem Fahrwasser unterwegs sein. Anders als die Therapie mit Medikinet am Anfang desselben Jahres, merkte ich wegen der langsamen Anpassung nicht so richtig einen Unterschied. Ich glaube, dass zumindest mit dem Behandlungsbeginn die Selbstverletzungen relativ schnell aufhörten.
Ich hatte mich damals ein bisschen eingelesen, was die Wirkungen angeht und darauf bestanden, dass die Ärztin Lena ganz genau erklärt, welche Wirkungen / Nebenwirkungen / Wechselwirkungen es gäbe. Das waren aber in meiner Erinnerung gar nicht so besonders viele Dinge. Einiges habe ich jetzt erst - im Absetzprozess - nachgelesen oder erlebt. Hätte ich es gewusst, hätte ich noch viel mehr Angst davor gehabt. Schulmedizinisch ist nicht alles zu erklären.
Kurz vor dem Absetzen sagte die Ärztin, dass es zu rechtfertigen sei, dass eine damals 15jährige ein Medikament erhielt, das Zärtlichkeit in vielen Fällen schwierig mache, dass es aber nachvollziehbar sei, dass eine fast 18jährige darunter leide. Erst da begann ich mit meiner Recherche. Auch wenn ich die Ärztin sehr schätze, hat diese Aussage mich schockiert. Welche unbekannten Wirkungen hatten diese Tabletten noch auf mein Kind gehabt?
Ich fand den nachfolgenden Text im Internet auf der Seite www.chemie.de/lexikon/Venlafaxin.html. Dieser ist beispielhaft für andere Beiträge mit ähnlichen Aussagen:
"Venlafaxin soll bei unter 25jährigen Anwendern die Suizidalität (Selbstmordneigung) [...] um den Faktor 5 steigern. [...] Eine Erklärung dafür ist die Verflachung der Gefühlstiefe, welche zur Unterdrückung der Todesangst führt. Eine weitere Erklärung dafür ist die Antriebssteigerung, welche das Medikament bewirkt. Dies kann bei Patienten mit Suizidgedanken dazu führen, dass diese ihre Pläne ausführen, [...]."
Dumpf erinnerte ich mich an die Tage der Angst, und mir wurde umso mehr klar, warum dieses Medikament so schnell wie möglich aus unserem Haus verschwinden soll. Lena selbst wollte endlich ihre Gefühle zurück, weil sie sagte, dass sie nun besser mit sich zurecht käme. Also setzte sie in kleinen Schritten um je 12,5 mg alle paar Tage ein Kugel mehr ab, bis wir endlich bei nur einer einzigen Kugel angelangt waren. Das ging bis dahin einigermaßen problemlos.
Es kamen alte Gedankengänge zurück, die nicht alle positiv waren. Lena selbst sagte, sie müsse sich daran gewöhnen, dass auch die schlechten Gedanken wieder kämen. Sie beruhigte mich damit, dass sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, es seien nicht die GANZ schlechten Gedanken. Aber ich merkte und merke, wie anstrengend dieser Prozess für sie war und ist. Anders als früher, baut sie sich ein minimalistisches Netz aus unverbindlichen Aktivitäten, die sie regelmäßig wahrnimmt, um nicht unterzugehen. So macht sie gerade ein Praktikum, geht 1 oder 2 x wöchentlich zum Training und endlich wieder zum Klavier. Sie geht hin und wieder auf Partys, auf denen regelmäßig sie die Musik macht. Das sind alles Dinge, bei denen es nicht um sie und um nichts geht.
Seit dem Schulende trifft sie nur ihre neue beste Freundin maximal 1 x in der Woche - eher seltener. Denke ich an "enge Freunde", komme ich bei Lena nicht auf eine Handvoll.
Die Aktivitäten führen dazu, dass sie einigermaßen regelmäßig duschen muss und dass sie das Haus verlässt, um wie in einem Theaterstück aufzutreten: präsent und einnehmend. Innerhalb des Hauses ist sie eine Hülle - so lustig und mitreißend sie auf andere Menschen wirkt, so in sich gekehrt, abweisend und abwesend ist sie hier zu Hause. Hier sind ihre Augen leer, Haut und Haare stumpf und leblos, ihr Herz im Moment kaum emphatisch, ihre Seele scheinbar unerreichbar.
Venlafaxin hat dazu geführt, dass ihre Schlafqualität massiv beeinträchtigt war. Wie sehr, wird erst jetzt deutlich. Die letzten 2 Jahre hatte sie regelmäßig schwierige Träume und solchen Nachtschweiß, dass ihr Bett eigentlich jeden Tag durchgeschwitzt war. Das Bett musste tagsüber trocknen, häufig neu bezogen werden, und es gab JEDEN Tag einen frischen Schlafanzug. Sie hat in den 2 Jahren nur 2 x bei ihrer Freundin übernachtet und seltenst Schlafbesuch gehabt. Nicht nur die körperliche Nähe, sondern auch der eigene verschwitzte Körper waren ihr unangenehm. Der morgendliche Geruch in ihrem Zimmer war schwer auszuhalten: es roch immer muffig, feucht und ungesund. Schon jetzt mit der reduzierten Dosis ist das viel besser geworden. Sie sagte vor ein paar Tagen, dass sie endlich mal wieder einen erholsamen Schlaf hatte - sie kann sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal der Fall war. Immerhin kann man diesbezüglich schon von einer Verbesserung sprechen.
Seit der Dosisreduktion ist auch der Appetit wieder gekommen - sie hört nicht auf zu essen und hat schnell etwas zugenommen. Ich hoffe, dass sich das bald normalisiert - aber gerade isst Lena schon zum Frühstück Nudeln mit Sahnesoße. Das sind die Momente, in denen ich ein kleines Leuchten in den Augen wahrnehmen kann. Immerhin.
So wie damals, als Lena die Überdosis genommen hatte und danach unter dem Entzug alle Grenzen überschritt, habe ich jetzt hin und wieder das Gefühl, Venlafaxin hätte die Pubertät gehemmt, so dass diese verspätet stattfindet. So wie Lena denkt, alle ungeweinten Tränen der letzten 2 Jahre müssten nun raus, so muss vielleicht auch die Pubertät nachträglich raus.
Leider hat sie sich entschieden, diesen Weg ganz alleine zu gehen. Der nette Junge, den ich so gerne an ihrer Seite gesehen hätte, hat nur durch seine Anwesenheit für mich nicht nachvollziehbaren Druck ausgelöst. Ich kann nur vermuten, dass es die momentane Unfähigkeit ist, Nähe zu ertragen. Von Nähe zuzulassen oder sogar zu genießen, mal ganz zu schweigen. Da ich selbst auch meine alten Gefühle wiederentdecke, dass ich sie manchmal umbringen möchte, frage ich mich sowieso, wie er das hätte aushalten können. In seinem Kopf gab es nur die mitreißende und lustige Lena, deren Lachen so ansteckend ist. Über den Verlust dieses Mädchens trauert der Junge jetzt, ohne eine Vorstellung von der anderen Lena zu haben. Die ist ein schwieriger und zurückgezogener Mensch. Sie ist ein Nerd im Körper einer Barbie. Sie hat einige Zeit versucht, der Sache eine Chance zu geben, aber sie konnte sich dann letztlich leider nicht überwinden, sich auf einen anderen Menschen wirklich einzulassen. Ihre zurückgezogene und oft abweisende Art hätten es ihm auch mit der Zeit sehr schwer gemacht. Sie hätte vermutlich nicht die Kraft, ihre Fassade in seiner Gegenwart länger zu halten - wenn sie mehr Menschen in ihre Nähe lässt, muss sie längere Zeiträume Haltung bewahren. Diese Kraft scheint sie im Moment nicht zu haben, denn ihre Reserven reichen gerade zum Existieren und für ihre neue Funktionalität. Früher hat sie sich verabredet und dann fast immer kurzfristig abgesagt, hat nicht mehr geduscht und das Haus nicht mehr verlassen. Heute hangelt sie sich an ihrem Zeitgerüst entlang, um nicht zu ertrinken - aber das ist vermutlich sehr anstrengend.
Ich habe mir schon so oft gewünscht, dass sie Menschen findet, die den Weg mit ihr gehen. Tatsache ist, dass es bestimmt Menschen gäbe, die den Weg mit ihr gehen würden und bereit wären, für sie da zu sein, dass sie aber bislang entschieden hat, den Weg alleine zu gehen. So oft habe ich gehofft, dass Menschen um sie erkennen, was in ihr steckt - aber ich habe nicht bedacht, dass Lena es niemanden erkennen lassen möchte. Ihre anziehende Wirkung auf Menschen scheint sie manchmal fast zu stressen.
Die 'Tage seit Beginn des Absetzprozesses bringen mich von Lena und meinem Umfeld unbemerkt wieder an meine eigenen Grenzen, weil alles so viele Fragen aufwirft, die noch nicht zu beantworten sind. Ich weine bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wenn ich alleine bin. Fast, als müssten auch meine ungeweinten Tränen der letzten Jahre heraus. Ich habe mich so zusammen gerissen und habe all meine Kraft in das Überleben meiner Tochter gesteckt - es hieß: diese zwei letzten Jahre in der Schule wird die schwierigste Zeit ihres Lebens sein. Jetzt, wo die Schulzeit zu Ende ist, merke ich, wie wenig ich alles verarbeitet habe. Mein Denken reichte nur bis zum Ende dieser Zeit - und jetzt merke ich, dass natürlich nicht plötzlich alles gut ist. Es ist, als hätte meine Seele aber auf diesen Zeitpunkt so hingefiebert, dass meine Kraft jetzt nicht mehr reicht, um die Ängste weiter in Schach zu halten. Zu den unverarbeiteten Ängsten gesellen sich neue Fragen: Wird es ganz ohne Antidepressiva gehen? Werden die alten Geister wiederkommen und Lena quälen? Welchen Weg wird sie beruflich einschlagen bzw. einschlagen können? Wird sie es jemals schaffen, Menschen in ihr Leben zu lassen? Und werden Menschen außerhalb ihrer engen Familie sie langfristig ertragen können? Ist es nur das Medikament, was ihr körperliche Nähe so schwer macht oder wird das vielleicht ihr ganzes Leben so sein? Obwohl es keine Anzeichen dafür gibt, schaue ich ängstlich auf ihre Arme und Oberschenkel, schaue ich vor dem Waschen in die hellen Hosen, ob ich Blutspuren entdecke, weil ich Angst habe, dass ihre Liebe zu sich selbst wieder nicht reichen könnte, wenn die Wirkung des Medikaments nachlässt.
Lange Zeit hatte sie Angst, dass sie gar keine Liebe empfinden kann. Als ich dann einen Autounfall hatte und sie sich Sorgen gemacht hat, dass mir etwas passiert sei, ist sie barfuß und im Schlafanzug in Tränen aufgelöst zur Unfallstelle gelaufen. Ich konnte ihr sagen, dass es eine Form von Liebe ist, wenn man sich Sorgen macht. Aber auch die "Verflachung der Gefühlstiefe" ist eine beschriebene Nebenwirkung von Venlafaxin. Ich frage mich, wie flach die Gefühle geworden sind, wie lange es dauert, bis die Tiefe wiederkommt oder ob Lenas Gefühle, vor allem die Liebesgefühle, generell flach sind. Als sie mit der Therapie begann, hatte ich mir altersbedingt diese Frage noch nie gestellt. Ich wusste aber um die Tiefe ihrer vorherrschenden Gefühle damals: Angst und Selbsthass,
Als Mutter wünscht man sich für seine Kinder einen einfachen Weg - aber Lenas Weg war bis hierher nicht einfach. Was hat mir die Sicherheit gegeben, dass der Weg einfacher werden würde? Woher habe ich diesen Glauben genommen und warum ist er jetzt plötzlich verschwunden?
Die letzte Kugel habe ich vor 2 Tagen halbiert und heimlich ausgetauscht, weil Lena großen Respekt vor einer weiteren Reduktion hat und sich bislang nicht getraut hat, die letzte Kugel wegzulassen. An dem Tag hatte sie solche Kopfschmerzen, dass sie sagte, so müsse Migräne sein. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und habe überlegt, die halben Kügelchen wieder gegen ganze auszutauschen, aber am zweiten Tag ging es viel besser und ich konnte es auf das Wetter schieben.
Ich beobachte Lena und hoffe, dass sie selbst schnell weiter reduzieren möchte. Aus ärztlicher Sicht ist der Wirkstoff nach ein paar Tagen aus dem Blut heraus. Patientenberichten zufolge dauert es manchmal Monate, bis die Gefühle sich normalisiert haben. Viele schaffen es nicht ohne Venlafaxin. Aber ich möchte daran glauben, dass es klappt. Lena ist momentan schwierig und zurückgezogen. Sie sagt, sie muss mit sich alleine zuerst zurecht kommen - da ist sicher etwas Wahres dran. Ich bin gespannt, was für ein Mensch danach zum Vorschein kommen wird, denn schließlich hat Lenas Geschichte und das Erwachsenwerden sie verändert. Ich habe also auch ein bisschen Angst davor, ob ich meine Tochter danach noch kenne.
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