Die Sache mit der Besonderheit

Den Weg zur Psychiaterin fanden wir erst, als die Selbstverletzung offensichtlich wurde. Davor befanden wir uns in einem Strudel aus Emotionen. Wir wollten sie schütteln oder halten, ihr helfen oder sie umbringen.

 

Wie kann ich ein Leben von fast 16 Jahren in kurzen Sätzen zusammen fassen? Wie kann ich versuchen, meine Tochter zu erklären, so wie ich es unbewusst die ganzen Jahre getan habe? Wie kann ich meine ungleich größeren Sorgen um dieses eine Kind im Vergleich zu den anderen Kindern in Worte fassen?

 

Meine Tochter, ich nenne sie jetzt Lena, ist mein erstgeborenes Kind. Sie war aus meiner Sicht immer ein ganz normales Kind. Sie hatte immer ein wenig Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen. Oft war sie die 3. im Bunde und irgendwie „über“, aber dennoch war sie nie eine, die störte, die keinen zum Spielen hatte, die sich auffällig verhielt.

 

Ich werde im Laufe meines Schreibens sicher noch die eine oder andere Schleife in die Vergangenheit brauchen, um mich selbst zu erinnern, dass sie doch immer ein bisschen besonders war.

 

Am Anfang der Grundschulzeit entwickelte Lena Tics. Sie räusperte sich ununterbrochen, sie rollte mit den Augen und kniff diese zusammen. Mit viel Geduld und einem beruhigenden Kinderarzt an unserer Seite, ging diese Phase vorüber. Es wurde untersucht, ob sie einen Tumor im Kopf hätte, und uns wurde gesagt, diese Tics würden weniger werden (wurden sie) und häufig in der Pubertät ganz aufhören. Wir dachten auch, dass das so gewesen sei, denn die verbalen Tics endeten, das Augenrollen wurde mithilfe einer Brille gefühlt besser. Wir sahen die Tics nicht mehr. Aber sie waren noch da.

 

Die Zeit des 2. Lockdowns war schwierig. Es kamen viele Dinge zusammen, die ich unwissend in einem alten Beitrag - Das stärkste Mädchen der Welt fällt aus, 21.02.2021 - zusammen gefasst habe. Jetzt weiß ich, dass es nicht der Lockdown war, der das System meiner Tochter zum Einsturz brachte. Es war auch kein Liebeskummer. Und es war auch nicht die Tatsache, dass ihre Freundin durch ihren ersten Freund plötzlich keine Zeit mehr für sie hatte.

 

Vielleicht hat aber alles zusammen dazu geführt, dass Lenas Systeme zusammen brachen. Es gab für sie keine Struktur mehr. Jeder Tag war wie der andere. Sie saß wie eine Feder mit ihren betonschweren Füßen auf einem moorigen Grund und wollte doch eigentlich fliegen. Weil sie das nicht konnte, schnitt sie sich Muster in ihre dünnen Oberschenkel.

 

Kurz bevor die Situation sich so zuspitzte, dass wir sicher waren, dass nur professionelle Unterstützung jetzt noch helfen würde, habe ich meine Gefühle in einem weiteren Artikel beschrieben - Eine Liebeserklärung, 27.11.2021.

 

Ich werde in der kommenden Zeit erzählen, wie es zu der Diagnose kam, wie meine Tochter damit umgeht und wie verschieden alle Familienmitglieder damit umgehen. Ich werde versuchen, Hintergrundwissen und interessante Links zusammen zu tragen. Ich möchte mit den vielen Vorurteilen aufräumen, dass man unbedingt hyperaktiv sein muss, dass man viel Aufmerksamkeit benötigt, dass es sich um eine Krankheit handelt und auch damit, dass die helfenden Medikamente die Kinder unter Drogen setzen. 

 

Und ich würde mich freuen, wenn andere Betroffene hier Hilfe fänden. Vorwiegend geht es in den Medien und Gruppen sozialer Netzwerke nämlich um frühe Diagnosen in oder sogar vor der Grundschulzeit. Vielfach sind das die Kinder "mit dem H" (also mit Hyperaktivität). Eine späte Diagnose - also erst ab 14 oder 15 Jahren mit der Besonderheit "ADS plus Hochbegabung" stellt alle Betroffenen vor neue Herausforderungen, wenngleich bei uns Eltern die Diagnose ein bisschen Erleichterung gebracht hat: sie hat die Depressionen "nur" als Symptom einer Besonderheit, die man ganz gut behandeln kann. 

 

Unsere Tochter geht nun seit kurzer Zeit einen neuen Weg, der damit beginnt, dass sie ihre zwei Besonderheiten (man könnte annehmen, sie heben sich auf, tun sie aber leider nicht) akzeptiert und lernt, damit umzugehen. Wenn ihr das gelingt, kann sie sich vielleicht auch endlich selbst "ok" finden und verstehen, dass sie an sich zwar arbeiten kann, dass aber auch wirklich liebenswerte und wertvolle Eigenschaften mit ADS verbunden sind.

 

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